Mein Deutschland:Der richtige Moment für Tränen

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Deutsche haben Probleme mit dem Flaggenschwenken - die Briten mit dem Gefühle-Zeigen.

Kate Connolly

Wie andere Zuschauer auch, war ich beim Fußball-EM-Halbfinale Deutschland-Italien berührt von dem Bild einer Anhängerin der deutschen Nationalmannschaft, die nach Italiens zweitem Tor in Tränen ausbrach. Dabei war das doch kein trauriger, sondern eher ein Moment voller Spannung. Warum also weinte sie? Als sich herausstellte, dass die Tränen der Andrea aus Düsseldorf tatsächlich ihre Reaktion auf die deutsche Nationalhymne waren, erschien es stimmiger. Ich war überrascht, dass die Uefa mit solchen Bildern ihr Spiel trieb. Aber noch stärker als meine Verwunderung darüber war meine Enttäuschung, dass eine Gelegenheit verpasst wurde, es an der richtigen Stelle zu zeigen. Denn die Frau weinte aus Nationalstolz!

Der schweizer Tennis-Profi Roger Federer hat  am 8. Juli 2012 im Finale gegen Andy Murray seinem siebten Wimbledon-Titel gewonnen. (Foto: Getty Images)

Für uns Briten, die wir gerade das goldene Thronjubiläum der Queen gefeiert haben, wo Flaggenschwenken und Nationalstolz die Norm sind, und die wir gerade vor den Olympischen Spielen stehen, wo noch mehr Patriotismus geboren wird - ob man es nun mag oder nicht - ist es zumindest faszinierend, wie vorsichtig Deutsche beim Thema Nationalstolz sind. Nach meinen Beobachtungen der vergangenen Jahre ist das Fußballstadion einer der wenigen Orte, der frei ist von dieser selbstquälerischen Debatte. Hätte man das Bild einer weinenden Andrea "live" verwendet, wäre es bewegend gewesen und nicht deplatziert.

Sport und Gefühle gehen ja immer Hand in Hand. Aber versuchen Sie mal, einen Deutschen zu finden, der sich heutzutage für Wimbledon interessiert - keine Chance! Boris Becker und Steffi Graf, meine Helden aus Teenager-Zeiten sind den heutigen deutschen Teens kein Begriff mehr. Ich versuchte verzweifelt, das historische Finale am vergangenen Sonntag zwischen Roger Federer und dem ersten Briten, der seit 74 (!) Jahren so weit gekommen war, zu sehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen strahlte es nicht aus, aber ich weigere mich, Rupert Murdoch Geld für sein Sky in den Rachen zu werfen. Und in die beiden (!) Raucherkneipen ums Eck wollte ich auch nicht gehen. Was also tun? Sie können sich vorstellen, wie dankbar und erleichtert ich war, als der Pächter einer ehemaligen DDR-Sportskneipe (mit viel DDR-Patina) seinen Saal für mich und einen einsamen Informatiker öffnete, um das denkwürdige Match zu verfolgen.

Ihr Deutschen habt Probleme mit dem Flaggenschwenken - wir Briten mit dem Gefühle-Zeigen. So war es direkt erleichternd, den sonst so abgebrühten Schotten Andy Murray zu sehen, wie er nach tapferem, aber fruchtlosem Kampf, den Stolz einer Nation wiederherzustellen, Tränen vergoss. Das war tatsächlich der richtige Moment, um zu weinen.

Kate Connolly berichtet für den britischen Guardian aus Berlin.

© SZ vom 14./15.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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