Mein Deutschland:Das Volk hat immer recht

Lesezeit: 2 min

Wer die eigene Bevölkerung ernst nimmt, darf ihr als Politiker durchaus einiges zutrauen. Auch eine fundierte Meinung. Auch in Deutschland.

Markus Sutter

In fast allen Ländern, auch in Deutschland, haben Politiker mit der direkten Demokratie wenig am Hut. Die Mitwirkungsrechte der Bürger bei Sachfragen tendieren gegen null. Die Vertreter des Volkes wollen lieber unter sich die beste Lösung für ihr Volk aushandeln. Immerhin dürfen die Bürger stets am Fernsehen mitverfolgen, wenn die Damen und Herren Parlamentarier in Berlin vor fast leeren Rängen sprechen. Auch Umschalten ist erlaubt, wenn es nicht mehr zum Aushalten ist.

In der Schweiz haben Volksabstimmungen eine lange Tradition. Alle paar Monate wird der Souverän sonntags an die Urne gebeten. (Foto: Foto: dpa)

Doch es geht auch anders: Ob über Steuerfragen, die Legalisierung von Cannabis oder gar die Abschaffung der heiligen Kuh Armee - in der Schweiz haben Volksabstimmungen eine lange Tradition. Alle paar Monate wird der Souverän sonntags an die Urne gebeten. Die langen Schlangen vor dem Abstimmungslokal, oft identisch mit der Dorfbeiz, gehören zum Leidwesen vieler Wirte jedoch der Vergangenheit an. Heutzutage wirft das Gros der Leute das Stimmcouvert lieber in den nächsten Briefkasten.

Dennoch: Das Vertrauen in die Urteilskraft der eigenen Bevölkerung ist ungebrochen. Eine spürbare Nervosität schleicht sich bei Schweizer Politikern im Vorfeld einer Abstimmung hingegen ein, wenn ein wichtiges und gleichzeitig komplexes Thema ansteht. Dann wird andeutungsweise die Befürchtung laut, der Souverän könnte sich der Tragweite des Entscheides vielleicht nicht ganz bewusst sein. Das Volk reagiert schließlich oft emotional und weniger rational, lautet der unausgesprochene Tenor.

Populistische Parteien machen sich diese Schwäche gerne zunutze. Mehr Ausländer ist gleich mehr Kriminalität. Mehr Ausländer ist gleich weniger Arbeitsplätze für Einheimische und höhere soziale Kosten. So einfach kann manchmal die "Wahrheit" zusammengefasst werden. Die Rechnung der ewigen Angstmacher der Schweizerischen Volkspartei ging am vergangenen Sonntag jedoch einmal mehr nicht auf, obwohl sich mit Angst erfahrungsgemäß gut Politik machen lässt. Zur Debatte stand, ob die Schweiz die Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder Bulgarien und Rumänien ausdehnen soll.

Die Zustimmungsrate von 60 Prozent darf sich sehen lassen. Das Volk spürt in seiner Mehrheit durchaus, dass der kleine Staat inmitten von Europa verankert gehört. Immer mehr Leuten wird klar, dass sich die vielgepriesene Freiheit der Schweiz heute auf den autonomen Nachvollzug beschränkt, den die EU diktiert. Die Freiheit ist eine relative geworden. Das ist ein wenig wie bei Kindern, denen man sagt: Du darfst jetzt freiwillig ins Bett oder ich zwinge dich dazu.

Das Volk hat immer recht, geben sich Politiker in der Schweiz in Sonntagsreden bescheiden. Nach geschlagener Abstimmungsschlacht klingt es bei den enttäuschten Verlierern zwar manchmal anders. Doch im Großen und Ganzen sind sich alle Beteiligten einig: Ein paar Millionen Bürger können sich weder mehr irren als ein paar hundert Politiker noch sind sie besser zu manipulieren. Wer die eigene Bevölkerung ernst nimmt, darf ihr als Politiker durchaus einiges zutrauen. Auch eine fundierte Meinung. Auch in Deutschland.

Vier Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Markus Sutter berichtet aus Berlin für die Basler Zeitung.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: