Mein Deutschland:An jeder Laterne

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Ein Mann geht an den Wahlplakaten der Parteien FDP (l-r), SPD und Bündnis 90/Die Grünen am 6. August 2013 in Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen) an einer Straße vorbei. Am 22. September 2013 findet die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag statt. (Foto: dpa)

Plakate, die uns die nächsten Wochen wie ein Schatten verfolgen.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Hilfe, die Stalker sind wieder da! Sie beobachten uns, wenn wir morgens aus dem Haus gehen, und sind zuverlässig auf dem Posten, wenn wir abends zurückkommen. An jeder Laterne, Litfaßsäule, Mauer ihr steifes Lächeln, ihre stechenden Augen, ihre unheimlichen Glücks- und Sicherheitsversprechen. Sie werden uns sechs Wochen lang wie ein Schatten verfolgen. Bis zu den Wahlen werden sie über uns wachen, auf den Plakaten, die unsere Straßen pflastern.

Angela Merkel, die Mutter der Nation, blickt mir tief in die Augen, wenn ich morgens über die Türschwelle trete. Ich stoße die Türe auf und zack, habe ich die Kanzlerin vor der Nase. Zugewandt will sie auf Augenhöhe sein mit ihrem Fußvolk. Einige Meter weiter krallt sich Peer Steinbrück an den Rand seines Plakats, als drohe er ins Leere zu kippen und auf den Bürgersteig aufzuschlagen. Er lächelt etwas gezwungen, und jeden Tag mache ich mir Sorgen um ihn.

An der nächsten Straßenecke erinnert Rainer Brüderle mit seiner kanariengelben Satinkrawatte und seiner rechteckigen Brille ein wenig an den verkrampften Präsidenten eines Lions-Clubs in der Provinz. Neben der Bushaltestelle verbreitet Jürgen Trittin einen Hauch von Hollywood mit seiner in die Handfläche geschmiegten Wange, dem blauäugigen und etwas verträumten Blick. Dieser Mann würde sich noch besser auf der Blümchen-Tapete eines Teenagers als an der Platane in meiner Straße machen. Und sieh an, ein Wiedergänger! Gregor Gysi ist wieder da! Ich habe ein wenig den Überblick verloren, was seine Abgänge und Comebacks angeht. Eigentlich habe ich den Eindruck, dass er seit dem Fall der Mauer an der örtlichen Litfaßsäule hängt. Mit seiner strammen Krawatte und seinem perfekt sitzenden Anzug ist er allerdings nicht mehr in dem Alter, den braven Schwiegersohn spielen zu können.

Manchmal ist die Szenerie ein wenig ausgefallen, um es mal vorsichtig zu sagen. Merkel gleich über der Altkleidersammlung. Trittin neben einem überquellenden Mülleimer. Steinbrück vor der Tiefgarage. Sollte man darin ein Omen sehen? Oder sind das alles Zufälle? Eine Gedankenlosigkeit des Plakatklebers? Am 22. September werden wir es wissen.

Pascale Hugues ist Deutschland-Korrespondentin des französischen Magazins Le Point.

© SZ vom 10./11.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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