Mein Deutschland:Alle in einer langen Schlange

Lesezeit: 1 min

Eine Reisende in Hamburg am Flughafen bei der Sicherheitskontrolle. (Foto: dpa)

EU-Schalter oder Nicht-EU-Schalter?

Eine Kolumne von Agnieszka Kowaluk

Als Schülerin besuchte ich Quedlinburg, meine erste deutsche Stadt. Wir trieben uns in der malerischen Altstadt auf dem einzigen "Polenmarkt" herum, den ich je gesehen habe. Der Straßenhandel in den Zeiten vor dem Zerfall des Ostblocks war eine Fingerübung für die Einführung des freien Marktes. Polen haben heute eine gut funktionierende Wirtschaft und viel Verständnis für die Verkäufer aus dem noch weiteren Osten, die heute aus den charakteristischen karierten Taschen ihre Waren auf den polnischen Märkten auspacken.

Als Studentin stand ich auf Flughäfen Schlange vor den "Nicht-EU-Bürger"-Schaltern. Die andere, die EU-Schlange, war immer unendlich viel schneller, weswegen meine deutschen Freunde nach gemeinsamen Reisen auf mich warten mussten. Immerhin lag mein Land da nicht mehr hinter dem Eisernen Vorhang, sondern befand sich in der Kapitalismusaufbauphase. Auf die Frage der Grenzbeamten "Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?" musste ich immer noch eine Antwort geben. Sie lautete, je nach Laune: "Ich weiß nicht", "Für immer" oder "Warum wollen Sie das wissen?" Heute stelle ich mich zusammen mit meiner deutschen Tochter in die schnelle, die EU-Schlange. Unsere Heimatländer liegen auf beiden Seiten der unsichtbaren Grenze, wir wählen sie frei, und das sogar mehrmals im Jahr, selbst wenn unser "Lebensmittelpunkt" in Deutschland liegt.

Man rechnet dieses Jahr mit vielen "Zuwanderern aus Osteuropa". Das bereitet manchen Kopfzerbrechen. Von einer "Einwanderung in unsere Sozialsysteme" ist zu lesen, von "noch ein paar Hunderttausend Osteuropäern, die man durchfüttern muss". Und als Willkommensspruch gilt der Appell an den Tugendkodex: "Wer betrügt, fliegt". In einem Internetforum berief sich eine Frau gar auf Dostojewski: "Ohne Heimat sein heißt leiden" schrieb sie und fragte besorgt: "Warum tun sich Menschen das an?" Es gab Zeiten, da taten sie es, um zu überleben. Heute tun sie es aus Neugier und auf der Suche nach einem besseren Leben. Das betrifft polnische und rumänische Klempner, die nach Deutschland und Großbritannien kommen, genauso wie deutsche Manager, die nach Warschau und Sofia fliegen, oder deutsche Gemüsebauern auf Teneriffa.

Agnieszka Kowaluk ist Literaturübersetzerin. Sie lebt in München.

© SZ vom 11./12.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: