Mein Deutschland:Ach so, ich verstehe

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In Deutschland hat der historische Prozess lange gedauert, viel länger als in China.

Shi Ming

Wenn Gutmenschen etwas akzeptieren, es aber nicht offen zugeben wollen, zeigen sie Verständnis. So verstehen sie etwa, wenn in Griechenland eine Reichensteuer eingeführt wird. Wenn sie dagegen etwas ablehnen, aber es nicht direkt sagen wollen, pochen sie auf das Recht, kognitiv zurückzubleiben: Das sei überhaupt nicht zu verstehen. Zum Beispiel: Warum hat eine, in den Augen deutscher Gutmenschen sonst überaus rational-verständliche, ökonomisch so erfolgreiche Regierung wie die in Peking einen so berühmten Künstler wie Ai Weiwei verschleppt?

Dieses Bild, aufgenommen am 20. Juli 2012, zeigt einen chinesische Besucherin, die mit einer "3D-Malerei" in Hefei, Provinz Anhui, im Osten Chinas posiert. Die dreidimensionale Kunstausstellung wird, laut den Organisatoren, in ganz China im Laufe der nächsten eineinhalb Jahre gezeigt. (Foto: AFP)

Verstehen verpflichtet nicht. Manchmal plagt verständige Gutmenschen aber das Gewissen. Dann bemühen nicht wenige, darunter gescheite Intellektuelle, beim Gegenüber Verständnis: Schauen Sie, westliche Länder wie Deutschland hätten 200 Jahre gebraucht, um auf das industrielle Niveau von heute zu kommen, heutige Schwellenländer spurten da viel fleißiger. Der Subtext: Man müsse doch Verständnis dafür haben, wenn einiges noch im Argen liege - zum Beispiel der Rechtsstaat.

Als ich einen deutschen Sinologen darauf ansprach, warum in China trotz Wirtschaftswunders keine Freiheit im Sinne politischer Bürgerrechte herrsche, sagte er: "Sie müssen verstehen, das ist ein historischer Prozess, der auch bei uns, ja gerade bei uns, sehr lange gedauert hat, viel länger als in China." Ohne Gerichtsverfahren zur Zwangsarbeit Verurteilte in China verstehen das allerdings nicht. Historischer Prozess hin oder her: 1848 hatten in Deutschland pfälzische, bäuerliche Analphabeten die Tyrannei nicht mehr geduldet, sie wollten den "historischen Prozess" nicht abwarten und machten mit bei der bürgerlichen Revolution. Das erscheint dem verständnisvollen Professor aber ignorierbar.

Zur Erklärung für ihr leichtfüßiges Verständnis beschwören Gutmenschen nicht selten die erdrückende deutsche, beziehungsweise westliche Schuld. Was haben wir Deutsche nicht alles verbrochen, mit welchem Recht . . . - das ist die eine Variante. Die andere: Wir haben zweihundert Jahre die Luft verpestet. Nun stehen Chinesen und Inder an der Schwelle zur Moderne. Es wäre unfair, ihnen die Chance zu verweigern, so schnell wie möglich dort anzukommen. Folgte man dieser Logik, könnte man den Erdball aber gleich einpacken.

1999 erhoben auch Gutmenschen ihre Stimmen, um gegen die Vertreibung der Kosovo-Albaner zu protestieren, am Ende gar mit Bomben. Ebenfalls tierisch regen sich Gutmenschen darüber auf, dass die USA weiter die Luft verpesten. Warum die Inkonsequenz? Warum tun sie das nicht auch bei China? Es fällt auf: Kosovo ist winzig klein. Die USA sind zwar groß, aber eine Demokratie. Kann es sein, dass verständige Gutmenschen hierzulande ihr Feigenblatt namens "Verstehen" nur dann ablegen, wenn ihnen ihr Nicht-Verstehen nicht weh tut?

Shi Ming ist freier Publizist. Er lebt in Freiburg.

© SZ vom 21./22.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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