Mein Deutschand:Brüchige Membran

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Die Gefahrt lauert ständig nur wenige Meter unter unseren Füßen.

Pascale Hugues

Am vergangenen Dienstag wurde eine 250-Kilo-Fliegerbombe in München gesprengt. Am Tag darauf wurden in Oranienburg zwei Blindgänger unschädlich gemacht. Regelmäßig platzen diese gruseligen Souvenirs des Zweiten Weltkriegs in unseren Alltag. Die Anwohner werden evakuiert, der Verkehr wird umgeleitet. Die plötzlich allmächtige Vergangenheit nimmt die Gegenwart in Geiselhaft.

"Strassensperrung wegen Bombenneutralisierung'" steht am 30. August 2012 anlässlich der gezielten Sprengung von zwei Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg am Stadtrand von Oranienburg.  Bei der Sprengung einer vergleichbaren 250-Kilogramm-Bombe in München war es am 28. August 2012 nach der Explosion zu mehreren Bränden durch Splitter und brennendes Stroh gekommen. (Foto: dapd)

Andere Bilder überlagern dann die Realität: Berlin während der letzten Tage des Krieges, München unter dem Bombenhagel. Die Feuerstürme amerikanischer Todesschwadrone am Himmel, Frauen und Kinder zusammengepfercht in Luftschutzbunkern. Unheimlich, dieser explosive Gruß einer nicht allzu fernen Zeit. Diese Gefahren lauern ständig wenige Meter unter unseren Füßen und erinnern an die Dramen, die sich hier im Herzen Europas abspielten.

Eines Europas, im Moment geplagt von Selbstzweifeln. In den französischen Städten ist es das Heulen der 4500 Sirenen aus dem Zweiten Weltkrieg, die unsere Erinnerung beleben, jeden ersten Mittwoch im Monat um Punkt 12 Uhr. Als Kind war ich zerrissen zwischen blankem Terror und einer unbehaglichen Freude. Ich wusste, dass die Erwachsenen sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, uns ihren Krieg zu erzählen: das Erwachen in der Nacht, der hell erleuchtete Himmel, das Rennen in den Keller, die komplett zerstörten Straßen am Morgen, die Gestapo an jeder Ecke der Straße, und die ganze Familie dicht gedrängt um den Radioapparat, um BBC und die mit Pathos geladene Stimme des General de Gaulle zu hören.

Ich dachte später gern an diese Erlebnisse, weil sie die sorglose und etwas triste Wirklichkeit in den Jahren der Feierlichkeiten zur deutsch-französischen Freundschaft würzten. Wenn man das erste Mal nach Deutschland kommt, springt einem die sehr lebendige und bedrückende Gegenwärtigkeit des Weltkriegs ins Auge. All diese einst wunderschönen Städte, die neu erbaut ihre Seele verloren haben. In Berlin die Baulücken und die Einschusslöcher an den Gebäuden, die nie renoviert wurden. Man schätzt, dass noch 100 000 Bomben und Granaten unter der Erde in Deutschland liegen. In diesem Land liegen die Schichten der Geschichte dicht übereinander, eine nach der anderen. Wir bewegen uns auf einer sehr dünnen und brüchigen Membran. Es reicht, dass uns von Zeit zu Zeit der Fund einer rostigen Bombe im Untergrund eines beschaulichen Viertels daran erinnert.

Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 01./02.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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