04. April 2009:Amok - abartiger Terror

Lesezeit: 3 min

Immer die gleichen Hauptverdächtigen: Waffengesetze, Ballerspiele, Lehrer und Eltern. SZ-Leser diskutieren die Schuldfrage bei Amokläufen.

"Jeder Amoklauf beschert uns die immer gleichen Krokodilstränen und die immer gleichen Hauptverdächtigen: die Waffengesetze, die Ballerspiele und die Schulen als Orte "der größten Kränkung" (" Die Statistik des Leids", Außenansicht 19. März). Robertz' Statistiken mögen unangreifbar sein, seine Interpretationen sind es nicht. Kränkungen und Frustrationen erfahren wir keineswegs nur an der Schule, sie begleiten uns von Geburt an. Um es hinnehmen zu können, dass wir nicht immer die Aufmerksamkeit erfahren, auf die wir ein Anrecht zu haben glauben, und dass wir nicht allen Anforderungen stets in dem Maße gewachsen sind, in dem wir es gerne wären, müssen wir Frustrationstoleranz lernen, und hier kommt die wesentliche Rolle den Eltern zu.

Müssen Ursachen für Amokläufe auch in der Familie gesucht werden? SZ-Leser diskutieren. (Foto: Foto: Reuters)

Wir wissen zu wenig über die Kränkungen, die den jugendlichen Amokläufern widerfahren sind. Mit Sicherheit können wir jedoch sagen, dass es diesen Kindern nicht gelungen ist, diejenigen Kompetenzen zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen würden, die kritischste Phase des Heranwachsens, die Pubertät (die sie zwangsläufig an Schulen verbringen), einigermaßen unbeschadet zu überstehen: Sie haben keine Frustrationstoleranz gelernt und kein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt, sie sind nicht in der Lage, befriedigende soziale Bindungen einzugehen - kurz, sie haben sich nicht weit vom Sandkasten entfernt.

Was die Pubertät auch mit psychisch stabilen Jugendlichen anstellen kann, erfahren alle Eltern mehr oder minder leidvoll. Massive innere Konflikte sind an der Tagesordnung, extreme Verhaltensweisen und Grenzüberschreitungen aller Art normal, und auch die Wahl neuer Vorbilder als Spiegelung der nun vorherrschenden Phantasien ist gang und gäbe.

Für gravierend vorgeschädigte Jugendliche, deren Sozialisierung fehlgeschlagen ist, deren Geltungsbedürfnis krankhaft übersteigert ist und die jetzt krankhafte Gewaltphantasien entwickeln, werden school shooters leider nur allzu leicht zu Helden. Auch die Wahl der Schule als Tatort entspricht der pervertierten Logik: Sie ist nicht, wie Herr Robertz meint, der Ort der "größten Kränkung" (denn die wurde längst erlitten), sondern sie ist besonders verletzlich, weil in einem kleinen Radius eine größtmögliche Zahl von Opfern zu "erhoffen" ist.

Die Schuldzuweisungen an die Schulen verfehlen das Ziel - im Falle Winnenden allem Anschein nach ganz besonders - und sie sind darüber hinaus kontraproduktiv. Es ist absurd anzunehmen, Lehrer könnten gleichzeitig Wissensvermittler, Erzieher, Einzeltherapeuten, Sozialarbeiter und Propheten sein. Es ist ignorant, so zu tun, als hätten Jugendliche keine Vorgeschichte und würden erst durch die weiterführende Schule zu Gewalttätern gemacht.

Zu wenig diskutiert wird über die Rolle von Eltern. Sie sind es aber, die die frühkindliche Entwicklung prägen und von denen es ganz maßgeblich abhängt, ob die Sozialisation eines Kindes glückt oder nicht. Und wenn irgendjemand wissen oder zumindest ahnen können sollte, dass sich bei einem Heranwachsenden gravierende Fehlentwicklungen anbahnen, sind sie es auch - vor allen anderen. Dennoch werden sie stets komplett ausgeblendet - es sei denn, man diskutiert die Gewalttätigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Da werden schwache Mütter, prügelnde Väter, verquere Ehrbegriffe regelmäßig als ursächlich für die Entwicklung des Kindes zum brutalen Rowdy angeprangert.

Bei "unseren" Kindern aus der Mittelschicht ist die ausgeübte Gewalt in der Regel subtiler und von außen nicht so leicht zu erkennen, aber sie ist - zum Beispiel als Liebesentzug - potentiell vernichtender, und die gestellten Forderungen entsprechen weitaus mehr den Normen der an Leistung, materiellem Erfolg und anderen Äußerlichkeiten orientierten Gesellschaft.

Vielleicht wagen wir uns deshalb nicht an das Thema: Wir teilen diese Normen und identifizieren uns mit den Eltern. Auch wir möchten fassungslos sein können, wenn unser Kind zum Amokläufer wird, auch wir sehen uns als "normale" Familien, auch wir wollen nicht erkennen müssen, etwas falsch gemacht zu haben. Gleichzeitig ahnen wir ganz vage, dass wir möglicherweise nur Glück gehabt haben, wenn der Kelch an uns vorübergegangen ist.

Vielleicht wäre es lohnend, zur Abwechslung einmal zu erforschen, warum Kinder in anderen Ländern - zum Beispiel den südeuropäischen - nicht Amok laufen, obwohl es dort durchaus Waffen, Ballerspiele und unvollkommene Schulen gibt. Man muss vermuten, dass die Werte und Normen, die Familie und Gesellschaft dort prägen, zumindest Teil der Antwort sind."

Jo O'Neill München

Illusion der Sicherheit

"Erstaunlich, wie einseitig und kurzsichtig nach ultimativer, allumfassender Sicherheit gelechzt und suggeriert wird, man könne diese durch ein Verbot von Waffen in Privathaushalten tatsächlich gewinnen (" Waffen töten, Spiele nicht", 23. März). Amokläufe scheinen eine mediale Mode-Erscheinung zu sein, vergleichbar mit dem Bombenterror in israelischen Bussen, Vergiftungen von Kolonialwaren in irischen Supermärkten oder entführte Flugzeuge.

Lassen wir uns nicht trügen, von einer im Deckmantel der Sicherheit verhüllten, im Raum stehenden Waffengesetzverschärfung. Sie geht einher mit Freiheitsentzug und unter Generalverdacht stehenden Mitbürgern und kann keineswegs das schaffen, was erhofft wird. Nicht Schusswaffen vermögen alleinig und simpel zu töten, sondern Menschen töten mit beliebigen und unzähligen Werkzeugen, die ihnen dafür geschaffen erscheinen. Winnenden, Erfurt, Emsdetten und Columbine sind Synonyme für eine abartige Art von Terror geworden, der wir nicht gewachsen sein können, da sie im Kern unmenschlich ist."

Matthias Reilmann Lippstadt

Der Täter von Köln

"Am 11. Juni 1964 griff der 1921 geborene Täter Walter Seifert mit einem Flammenwerfer und einem Speer bewaffnet die Volksschule Volkhovener Weg in Köln an und tötete acht Kinder und zwei Lehrerinnen. Zwanzig Kinder erlitten zum Teil schwere Verbrennungen. Der Täter beging Selbstmord mit einem Pflanzenschutzmittel. Damals gab es noch keine Ballerspiele."

Christoph Urban Menden

© SZ vom 04.04.2009/sus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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