8. April 2009:Inakzeptanz, Ignoranz und Integration

Lesezeit: 8 min

SZ-Leser diskutieren über das Gesundheitswesen, die Europareife, die Opel-Sanierer, Aufsichtspflicht auf Klassenfahrten und H.M. Enzensberger.

"Seit 20 Jahren bin ich als Vorsitzende der Südosteuropa-Delegation des Europäischen Parlaments zuständig für die Länder des Ehemaligen Jugoslawiens und Albanien.

SZ-Leser diskutieren inwieweit die Balkan-Staaten fit für die Europäische Union sind. (Foto: Foto: ddp)

Ich weiß daher auch um die großen Verdienste meines Freundes und ehemaligen Kollegen, des früheren Streitschlichters und späteren Hohen Beauftragten in Bosnien-Herzegowina, Christian Schwarz-Schilling. Dennoch muss ich seiner Interpretation des CDU-Programms für die Europawahlen widersprechen.

Die CDU stellt die EU-Beitrittsperspektive für die Länder des Westbalkans nicht in Frage. Sie beschreibt mit ihrem Programm lediglich die Situation für die nächsten fünf Jahre. Jeder, der guten Willens ist und die Lage vor Ort kennt, weiß, dass außer Kroatien keines der betreffenden Länder in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments Beitrittsverhandlungen mit der EU abschließen wird. Kroatien steht als einziger der so genannten Westbalkanstaaten kurz vor dem Abschluss der Verhandlungen mit der Europäischen Union. Schlüge man ihm jetzt die Tür vor der Nase zu, wäre dies das denkbar schlechteste Signal auch für seine Nachbarstaaten.

Mazedonien ist Beitrittskandidat seit vier Jahren und hat noch keine Verhandlungen mit der EU begonnen. Albanien und Montenegro haben noch nicht einmal einen Kandidatenstatus.

Bosnien-Herzegowina ist das Land in der Region, das durch ethnische Vertreibung und Massenmord gekennzeichnet wurde. Dieser Staat beruht auf dem Vertrag von Dayton, der leider die ethnische Teilung nicht überwinden half. Bis heute hat die internationale Gemeinschaft einen Hohen Beauftragten in Sarajevo, der handeln muss, wo sich die bosnischen Politiker nicht einigen. Die heimischen Politiker wollen bis heute nicht verstehen, dass Bosnien-Herzegowina nur als geeinter und funktionierender Staat die Anforderungen aus dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen umsetzen und die nächsten Reformschritte in Richtung EU gehen kann. Als Berichterstatterin für Bosnien-Herzegowina im Europäischen Parlament begleite ich all dies mit großer Sorge.

Das Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen mit Serbien ist wegen der noch immer nicht vollständigen Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof nach wie vor nicht in Kraft. Eine europäische Beitrittsperspektive für das Kosovo ist noch langfristiger zu sehen, zumal dessen diplomatische Anerkennung durch einige Mitgliedstaaten weiter aussteht.

Fazit: Ein neuer EU-Erweiterungskommissar und das neugewählte Europäische Parlament werden entsprechend den Zusagen aller Mitgliedstaaten die Heranführung des Westbalkans an die Europäische Union aktiv begleiten und in jährlichen Berichten deren jeweilige Europareife prüfen.

Das Wahlprogramm der CDU stellt diese Vorgehensweise in keiner Weise in Frage."

Doris Pack, MdEP (CDU) Vorsitzende der Südosteuropa-Delegation des Europäischen Parlaments, Saarbrücken

Kollektiver Realitätsverlust

"Nähme man alles, was Basil Kerski, seines Zeichens Chefredakteur eines Magazins für deutsch-polnischen Dialog, uns über das für seine Landsleute "Inakzeptable" an Sichtweisen in Deutschland auf die "Zwangsmigration deutscher Zivilisten" mitteilt, für bare Münze, dann bliebe wohl nur der Schluss, dass wir es bei unseren polnischen Nachbarn mit einem vollendet ausgeprägten Nationalwahn, genauer nationalen Verdrängungswahn zu tun haben.

Zwar wird, anders als Kerski unterstellt, hierzuland niemand bei Verstand die Deutschenvertreibung mit dem Holocaust gleichsetzen. Erheblich anders sieht dies beim türkischen Völkermord an den Armeniern aus. Hier sind schreckliche Ähnlichkeiten mindestens partiell sehr wohl gegeben. Wenn "die Polen", so Kerski, aber wirklich auch als "inakzeptable Sicht" wahrnähmen, dass die mörderische Vertreibung der Deutschen aus ihren östlichen Reichs- und Siedlungsgebieten eine der größten und brutalsten "ethnischen Säuberungen" der Geschichte bezeichnet, bliebe in der Tat nur noch die Diagnose: kollektiver historischer Realitätsverlust."

Andreas Gizewski Großhansdorf

Das merkt doch keiner

"Deutlicher kann man nicht schildern, warum die Kosten im Gesundheitswesen zu Lasten der Beitragszahler ständig steigen - trotz Leistungsabbaus durch die Krankenkassen und Zuzahlungen wie die Praxisgebühr. Wenn die DRG-Pauschalen bei Frühgeborenen nach Geburtsgewicht gestaffelt sind, ist es den Krankenhäusern problemlos möglich, sich Zusatzeinnahmen zu verschaffen, indem das Geburtsgewicht der Neugeborenen nach unten 'korrigiert' wird. So treibt man durch schlampige (oder evtl. sogar bewusst eingebaute?) Vorgaben in den Gesetzen die Kosten weiter nach oben. Ich nenne das Einladung zum Betrug durch den Gesetzgeber, frei nach dem Motto 'Das macht doch nichts, das merkt doch keiner.'

Solange diejenigen, die am und im Gesundheitswesen verdienen (Ärzte und Krankenhäuser) die Definitionsmacht über die Diagnosen haben und dadurch ihr Einkommen beeinflussen, wird ein Ende der Kostenspirale nie erreicht werden. Das ist die Crux des Systems, dass die Anbieter von Leistungen die Nachfrage durch ihre Diagnosen selbst erzeugen.

Mir ist bekannt, dass eine Altenheimbewohnerin nach einem Sturz in die Klinik kam, weil sie am Kopf blutete. Der Grund des Sturzes war ein Erysipel. im Bein, das durch die Klinik behandelt wurde. Auf dem Diagnosebogen der der Krankenkasse vorlag, waren Brüche und Anbrüche von Rippen und Brustbein vermerkt, die sich die Patientin Jahre vorher bei einem Sturz in einem öffentlichen Verkehrsmittel zugezogen hatte. Die Röntgenbilder gaben eine wunderbare Vorlage für den Mißbrauch der DRGs."

Claus Wagner Baunatal

Brutalsanierer

"Nachdem bereits seine Unionsfreunde Rüttgers und Guttenberg erfolglos bei GM vorgesprochen haben und als Bittsteller mit leeren Händen von dannen gezogen sind, es ist nun wohl an der Zeit, dass der rasende Hessen-Roland zu den Amis eilt und denen mal so richtig den Marsch bläst. Schließlich lässt er sich ja jetzt schon als Opel-Sanierer feiern, obwohl er nichts sichtbares dafür geleistet hat.

Und wenn auch er auf brutalste Weise vom GM-Management heim geschickt worden ist, werden sich dann wohl auch noch Beck und Althaus auf Betteltour nach Detroit begeben. Sinnlose Aktionen von Selbstdarstellern, die hilflos einem hochnäsigen Pleitekonzern ausgeliefert sind, in dem keiner weiß, wo denn etwa Kaiserslautern oder Eisenach liegen. Wie sehr sich solche Konzerne um die Auswirkungen ihren Entscheidungen irgendwo auf der Welt kümmern, hat man nicht zuletzt im Fall BenQ gesehen. Statt blödsinnige Statements abzusondern, sollten die Herren Politiker besser Kerzen anzünden - in Rüsselsheim und anderswo."

Nikolaus Jöckel Offenbach am Main

Hilfen für die Firma Opel und die Rolle des VDA

"Gewiß ist das Überleben der Firma 'Opel' ein Thema von markt- und auch standortpolitischer Bedeutung. So gibt es in diesen Tagen sehr viele Stimmen , die sich zur Rettung der Fa. Opel äußern. Dazu zählen die Ministerpräsidenten der betroffenen Bundesländer, die Bundeskanzlerin, der Wirtschaftsminister, alle großen Parteien, Herr Dudenhöfer etc.

Andererseits muß man auch einmal beachten , wer sich an den öffentlichen Diskussionen überhaupt nicht beteiligt. Das ist nämlich der VDA 'Verband der Automobilindustrie', der ja bekanntermaßen über einen großen Einfluß auf die Politik verfügt. Präsident des VDA ist Herr Wissmann, seines Zeichens ehemaliger Verkehrsminister bei Helmut Kohl.

Das Schweigen des VDA zum Thema Opel fällt schon auf und stimmt einen nachdenklich. Man muß sich fragen, welches die Gründe für die medienorientierte Zurückhaltung von Herrn Wissmann sind, der ja ansonsten keine Gelegenheit auslässt um die Interessen seines Verbandes und die seiner Mitglieder in der Öffentlichkeit zu verbreiten.

Für die Gründe des beharrlichen Schweigens von Hr. Wissmann gibt es m.E. mehrere Gründe: 1. sein Verband will sich mit Rücksicht auf die politischen Diskussionen nicht an den öffentlichen Diskussionen beteiligen und arbeitet mehr im Hintergrund an einer Rettung für die Fa. Opel mit , oder aber 2. (und das scheint mir sehr viel plausibler) der Verband (in dem ja die Großen unserer Autoindustrie wie VW, Daimler Benz etc. vertreten sind) hat nicht das mindeste Interesse daran Opel zu retten. Im Gegenteil, ich denke eher, daß man im Verband froh ist, einen 'lästigen Konkurrenten' loszuwerden. Hierzu sollte Herr Wissmann schnellstmöglich Stellung nehmen."

Jürgen Nielsen Hamburg

Zeit für ein Umdenken

"Da braucht es einen toten Komasäufer, um das oft totgeschwiegene Problem des Kampftrinkens auf Klassenfahrten ans Tageslicht zu zerren. Und natürlich wird nach der Erfüllung der Aufsichtspflicht durch die Begleitlehrkraft gefragt, und natürlich sehen einige Eltern ihre Kinder als Opfer. Ganz unabhängig vom genauen Tatbestand des vorliegenden Falles sind einige Überlegungen zu Klassenfahrten mit (fast) volljährigen Schülerinnen angebracht.

Die notwendige aktive Erfüllung der Aufsichtspflicht kann nur passiv erfolgen, denn eine Lehrkraft darf weder Gepäck noch Zimmer der Schülerinnen gründlich auf Alkohol und Drogen durchsuchen oder einen Alkomaten einsetzen. Ein männlicher Lehrer darf das Zimmer von Mädchen gar nicht erst betreten. Dies alles erschwert die Überwachung eines Alkoholverbotes.

Die einzige Möglichkeit zur Verhinderung des Schlimmsten ist ein anstrengendes Rund-um-die-Uhr-Programm mit kurzer Nachtruhe und ohne jeden Ausgang - Kasernenhofatmosphäre inklusive. Hat man so erfolgreich den Suff unterbunden, erstaunt die Kreativität nüchterner Schülerinnen, selbst kleinste Zeitfenster für Urlaubsflirts oder das Schrotten des Aufzugs in der Absteige zu nutzen. Und natürlich muss man wegen der Aufsichtspflicht mit neuen Erziehungsmaßnahmen reagieren.

Nehmen die Eltern zu Hause ihre Sprösslinge wohlbehalten in Empfang, beschweren sich genau diejenigen, die sich vor der Fahrt am lautesten Sorgen gemacht haben, ihre Kinder seien nicht auf ihre Kosten gekommen. Die seien ja schließlich (fast) volljährig und die Fahrt habe unverschämterweise auch noch Geld gekostet.

Hätten die Schülerinnen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen während eines medizinisch leider notwendigen kurzen nächtlichen Erholungsschlafes der Lehrkraft ihre Volljährigkeit lendenstark und trinkfest mit Folgen für Leib und Leben unter Beweis gestellt, würden sich die gleichen Eltern beschweren.

Die Lehrkraft muss schließlich nüchtern feststellen, dass der vernünftige Großteil der Elternschaft samt seiner wohlgeratenen Kinder aus guten Gründen dem unvernünftigen Teil in den unausweichlichen Elterngesprächen das Feld überlässt, kann aber darauf vertrauen, dass die Dienstvorgesetzten Ihre pflichtbewussten Lehrkräfte für die Erfüllung der Aufsichtspflicht nicht bestrafen können und ihnen deshalb die nötige Unterstützung angedeihen lassen müssen.

Ob solche spaßfeindlichen Kollegen im nächsten Schuljahr allerdings erneut auf Klassenfahrt geschickt werden würden, war bislang fraglich. Denn es war bei den Fahrten entspannterer Lehrkräfte alles gut gegangen - der Erfolg liegt ja bekanntermaßen, frei nach dem Motto 'in vino veritas', im Auge des in diesem Fall sinnenfrohen Betrachters - und es waren keine Zeit- und Nerven raubenden Gespräche nötig. Bislang! Der tote Schüler aus Lübeck sollte für ein Umdenken sorgen."

Susanne Pulwey, Aalen

Die Krise wird zu "Verschiedenem"

"Sehr geehrter Herr Esslinger,

danke für den Leitartikel. Es bleibt zu hoffen, dass die von Ihnen sogenannte 'Multiplikatoren' davon etwas mitnehmen. Insoweit gibt es in Ihrem Artikel leider auch nur 2 Ansatzpunkte, die für mich als jahrelange Leserin der SZ wichtig sind: Stichwort Simbabwe und der letzte Satz, dass 85% der Menschen sehr gerne unsere Problme hätten.

Mir gehen nicht die sich ständig steigernden Katastrophenmeldungen auf die Nerven, sondern vor allem die einseitige Berichterstattung der SZ in den letzten Monaten. Ich habe die ersten Anzeichen für die Krise schon sehr früh in der SZ verfolgt, die damalige Berichtersattung von der ersten Zinssenkung durch Bernanke in den USA ließ erahnen, dass die Krise irgendwann ausbrechen würde.

Das war noch spannend zu lesen. Dann kam die Krise und die SZ berichtet in ihren Leitartikeln und den Schlagzeilen über nichts anderes mehr. Ich habe das nicht mehr aufnehmen können. Zuviel Gerede über Geld. Geld. Geld. Geld und immer wieder nur Geld. Es ist unerträglich! Gibt und gab es keine wichtigeren Nachrichten? Zum Beispiel die Gefangennahme eines wichtigen kongolesischen Rebellenführers im Urwald?

Für mich wird die Krise damit relativiert und in die Tagesordnungspunkte 'Verschiedenes' eingeordnet, indem ich selbst entscheide, was für mich wichtig ist. Das habe ich eigentlich bei der SZ so gelernt. Die SZ hat in den letzten eineinhalb Jahren sehr intensiv gerade auch im Wirtschaftsteil über die Spekulationsgeschäfte der Banken berichtet.

Wer das aufmerksam verfolgt hat, kann die Krise heute begreifen und braucht sich nicht darum zu scheren. Erst recht nicht in Hysterie zu verfallen! Aber Geld ist inzwischen wichtiger geworden für die Berichterstatter der SZ. Ich war schon kurz davor, das Abo zu kündigen. Insofern ist es richtig, wenn der amerikanische Psychologenverband Börsenmaklern empfiehlt, keine Fernsehnachrichten mehr zu sehen."

Caroline Schönfeldt, Hamburg

Kein Sprachmehl

"Ich bin mit dem insgesamt positiven Tenor des Artikels über H.M. Enzensberger sehr einverstanden, vermisse aber eine gebührende Würdigung zweier seiner herausragenden Eigenschaften:

Die eine ist Enzensbergers Intelligenz, eine ausgesprochene Rarität (die möglicherweise verantwortlich ist für seine im Artikel angesprochenen Positionswechsel, die wohl erfolgten, wenn Dummheit und Bedürftigkeit nachrückten und sich breitmachten).

Die zweite ist ein begnadetes Rhythmusgefühl, das seine Parlandogedichte zu Musik macht, die dem Leser selbst bitterste Botschaften einflößt, ohne ihn in Depression zu versenken. Mag sein, daß man das Ohr eines Jazzmusikers braucht, um den Reichtum an Synkopen, rhythmischen Schnitten und Überlagerungen vollständig aufzunehmen, aber sie werden nie artistischer Selbstzweck, sondern enthalten, differenzieren oder moderieren Inhalt.

Also, man sollte Enzensberger ohne Scheu mit mehr Wärme loben, damit nicht irgendein Leser der Süddeutschen Gefahr liefe, ihn mit einem der literarischen Müller zu verwechseln, welche gängiges Kommunikationsgetreide zu Sprachmehl verarbeiten!"

Josef Krebs, Gutweiler

© sueddeutsche.de/sus/brei - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: