29. Juli 2009:Gefährlicher Graben

Lesezeit: 3 min

Eine Studie besagt: 20 Jahre nach dem Mauerfall liegt zwischen dem Westen und dem Osten ein "mentaler Graben". SZ-Leser sehen solche Studien kritisch.

Zum Bericht über das Befinden in Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall (" Viele Ostdeutsche tief enttäuscht", 21. Juli) schreiben Leser:

Vor 20 Jahren war die Freude groß - heute attestiert eine Studie einen "mentalen Graben" zwischen Ost- und Westdeutschland. SZ-Leser sehen das kritisch, ebenso wie die mediale Berichterstattung. (Foto: Foto: dpa)

"Die vorgestellten Ergebnisse dieser Untersuchung sind in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen hoch dramatisch. Doch die Befragung könnte methodischen Probleme enthalten. Es ist bekannt, dass die materiellen Lebensverhältnisse in den ostdeutschen Bundesländern im Durchschnitt hinter denen der westlichen Bundesländer zurückbleiben, doch ist es gefährlich, einen tiefen 'mentalen Graben' zwischen Ost- und Westdeutschen zu konstatieren, der angeblich immer wieder in sozialwissenschaftlichen Befragungen gefunden wird. Auf diese Weise werden diese Befunde zu einem sozial-normativen Faktum, das kaum noch jemand bezweifelt, weil schon so oft darüber zu lesen und zu hören war.

Meinungs- und Sozialforscher laufen in solchen Fällen Gefahr, einem methodischen Artefakt aufzusitzen, das in der Sozialpsychologie als Verfügbarkeitsheuristik bezeichnet wird. Es zeigt, dass unter bestimmten Befragungsmethoden Menschen häufig nicht in der Lage sind, zwischen ihren persönlichen Meinungen und den veröffentlichten Meinungen zu unterscheiden und die veröffentlichte Meinung für die persönliche Meinung halten, weil sie diese schon so häufig über die Medien vermittelt bekommen haben.

Wir haben dies vor einigen Jahren in einer Untersuchung über den angeblichen 'mentalen Graben' zwischen Ost- und Westdeutschen demonstriert. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es zwischen den öffentlichen beziehungsweise veröffentlichten Meinungen (über die angeblichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen) und den ganz persönlichen Meinungen der Ost- und Westdeutschen starke Differenzen gibt.

Werden Ostdeutsche dazu befragt, wie sie die Unterschiede beziehungsweise ihre Benachteiligungen ganz allgemein einschätzen, dann konstatieren sie beträchtliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen. Befragen wir sie zusätzlich nach ihren ganz persönlichen Benachteiligungen und den Unterschieden zwischen ihnen und den Westdeutschen, dann fallen die wahrgenommenen Unterschiede zum Teil erheblich geringer aus.

Es bedarf für Untersuchungen dieser brisanten Fragen einer ausgefeilten Forschungsmethodik, um zu verlässlichen Aussagen zu gelangen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass 'mentale Gräben' durch die Medien überhaupt erst gegraben, zumindest aber vertieft werden."

Prof. Günter Bierbrauer Luzern Dr. Edgar Klinger Lienen

Politik für die eigene Klientel

"Als jahrzehntelanger Leser, der die Süddeutsche sehr schätzt, war ich doch etwas entsetzt: die Volkssolidarität und deren Erhebung über die Zufriedenheit der Ostdeutschen auf Seite eins - und das ziemlich blauäugig.

Ein kritischer Journalist sollte wissen, dass die Sozialverbände ein starkes Eigeninteresse an der 'Unzufriedenheit' ihrer Klientel haben, schließlich leben sie als Organisation ebenso wie ihr Klientel vom umverteilenden Sozialstaat. Je mehr umverteilt wird, um so besser für die Verbände. Aus dem Grunde dienen solche Erhebungen nicht dem Erkenntnisgewinn, sondern politischen Zwecken. Entsprechend sollte man sie bewerten.

Zum anderen sollte man wissen, zumindest wenn man die ostdeutschen Länder etwas genauer beobachtet, dass die Volkssolidarität nicht nur ein Sozialverband ist, sondern auch ein Verein von DDR-Nostalgikern. Positiv gewendet, erbringt die Volkssolidarität vor allem für ältere Menschen, Integrationsleistungen in einem weitgehend vertrauten Umfeld alter Genossen. Die Kehrseite ist die Glorifizierung der DDR, in der bekanntlich alles besser war, und die Ablehnung dessen, was nach der Herbstrevolution von 1989 geschah.

Die 'Unzufriedenheit' rührt weitgehend daher, dass man den gesellschaftlichen Status als relativ Privilegierter, den man in der DDR hatte, verloren hat. Bei einer Umfrage in einem SED-PDS-Linke-Kreisverband wären vermutlich dieselben Ergebnisse herausgekommen. Deswegen sollte man die Ergebnisse der Volkssolidarität nicht hoch bewerten, sondern als das begreifen, was sie sind: Interessenpolitik für die eigene Klientel."

Prof. Dr. Wolfgang Renzsch Magdeburg

In der DDR war es doch ganz schön

"Als zugereister Oberbayer komme ich gerade von einem Ostseeurlaub zurück nach Leipzig, wo ich seit fünf Jahren arbeite, und lese Ihren Bericht. Ich verbrachte den Urlaub mit meiner Leipziger Lebensgefährtin, einer Lehrerin, deren Eltern und einem befreundeten Ehepaar in einem gemeinsamen Ferienhaus, also eher dicht aufeinander.

In diesen zwei Wochen lernte ich eigentlich zum ersten Mal den immer noch vorhandenen deutschen Ost-Spirit kennen - wohlgemerkt von intelligenten und sympathischen Menschen. Neben den Urlaubs-Elementarthemen wie Wetter, Wassertemperatur und Pizza-Hawaii war das durchgängige Thema wie ein Basso ostinato: 'Ach, in der DDR war es doch ganz schön!'

Als ich freundlich-kritisch fragte, ob sie wieder gerne die Mauer, die Trabbis, die kaputten Straßen und die vergifteten Flüsse haben wollten, konterten sie: 'Wir hatten aber alle unsere Versorgungssicherheit, wir hatten alle Arbeit, aber auch nicht viel zu arbeiten.' Und jetzt müssten sie um ihre Existenz kämpfen und arbeiten.

Das also ist das absolute Knack-Thema der Ostdeutschen: die Versorgungssicherheit. Als ich erwiderte, dass sich kein Staat (außer reichen Ölstaaten) so ein System leisten könne und daran bankrott ginge, so wie eben auch die DDR,

reagierten sie völlig verständnislos. Das Thema zog sich bei jedem Frühstück oder gemeinsamen Essen durch, wurde immer in allen Facetten beleuchtet. So sieht es also in Ostdeutschland aus, selbst in einer lebendigen Stadt mit Chancen wie Leipzig."

Dr. Otto Schlörb Starnberg

© SZ vom 29.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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