24. Juli 2009:Europas Einheit droht zu ersticken

Lesezeit: 8 min

Wie ernst meinen es die Länder der EU wirklich mit der europäischen Integration? SZ-Leser diskutieren über Souveränitätsfragen und Beitrittsabsichten.

Zu Berichten und Kommentaren über Europa schreiben Leser:

Wie weit darf europäische Integration gehen? Nur so weit, wie Bundestag und Bundesländer wollen, finden EU-Kritiker wie auch die CSU. (Foto: Foto: ap)

"Alfred Grosser hat recht (' Sonderweg Deutschlands', 10./11. Juli): Die Karlsruher Richter begründen ihr Urteil mit plakativer Kritik an Demokratiedefiziten der EU. Sie kritisieren vor allem, dass bei der Wahl der Parlamentarier nicht der Grundsatz der 'Wahlgleichheit' - 'one man one vote' - gelte. Doch die EU ist ein föderales Konstrukt.

Im Föderalismus werden Zusammenschlüsse von Staaten unterschiedlicher Bevölkerung möglich, weil jene mit geringer Bevölkerung durch überproportionale Repräsentanz in politischen Gremien (wie in den USA im Senat oder in Deutschland im Bundesrat) für ihren Souveränitätsverzicht entschädigt werden und sich gegen Majorisierung wehren können. Weshalb wird im Urteil des Bundesverfassungsgerichts die demokratische Legitimität des Föderalismus verneint? Cui bono?

Es sollte nicht sein, was nicht sein darf: die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte zugunsten des Aufbaus eines politisch geeinten Europas. Die Kläger und wohl auch die Richter haben erkannt, dass weitere Fortschritte in der europäischen Einigung von nun an durch eine Prozessflut erstickt werden können. Länderfürsten erhalten die Chance, sich auf Kosten Europas politisch zu profilieren. Der Traum der politischen Einigung Europas wird dem Kantönligeist geopfert. In Deutschland entscheidet damit wieder einmal nicht die Politik, sondern die dritte Gewalt, die von Montesquieu mit gutem Grund als möglichst geringe, ja sogar möglichst unsichtbare Gewalt eingestuft wurde."

Prof. Dr. Dieter Oberndörfer Freiburg

Die Enthusiasten missachten demokratische Prinzipien

"Die schärfste Kritik Grossers richtet sich gegen den Umstand, dass die deutschen Richter anders als ihre französischen Pendants den Vorrang des Europarechts nicht restlos akzeptierten. Wie sollten sie auch?

Dieser Vorrang steht bis heute in keinem Vertrag, und es war kein anderes Organ als der Europäische Gerichtshof (EuGH) selbst, der seinen Urteilen sowie dem Europarecht generell in den 60er Jahren quasi pro domo die Suprematie zugesprochen hat. Die Argumentation des EuGH war dabei eine teleologische: Es soll so sein, damit es so ist. Der Suprematieanspruch war von Anfang an umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat einen gewohnheitsrechtlichen Vorrang auch bisher nur unter strengen Vorbehalten geduldet. Die Vorrangklausel war im Verfassungsvertrag zwar erstmals niedergeschrieben worden, wurde dann aber nach dessen Scheitern nicht in den Reformvertrag übernommen, sondern versteckt sich seither in einer bloßen Erklärung.

Sicher will niemand die EU zerstören, doch dieses 'juristische Wesen eigener Art' darf sich kraft seines ohnehin fragwürdigen Sui-generis-Etiketts unter keinen Umständen den wichtigsten politisch-juristischen Wertmaßstäben entziehen. Genau darauf haben nicht nur die Verfassungsrichter, sondern wir alle zu achten. Alles in allem liegt doch der folgende Verdacht viel näher: Die EU-Enthusiasten haben es mit der Demokratie nie so ernst gemeint."

Wolf J. Schünemann Heidelberg

Warum Island nicht Mitglied werden darf

"Wenn die CSU Islands EU-Beitritt verhindern möchte ( 'Union gegen Union', 18./19. Juli), kann sie dafür gewichtige Gründe anführen: Geographisch gehört Island nicht zu Europa, schließlich liegt es am Polarkreis. Seine Seegrenzen sind gegen den Zustrom illegaler Einwanderer in Schlauchbooten kaum zu verteidigen. Die Bevölkerung glaubt an Trolle und nordische Gottheiten, die einzigen Christen sind protestantisch.

Eine lesbische Regierungschefin kann kaum Vorbild für ein funktionierendes Familienbild abgeben. Und eine Einwohnerzahl von mehreren Hunderttausend kann die EU nicht verkraften. Einzige logische Konsequenz: Ergebnissoffene Verhandlungen, an deren Ende man Island eine privilegierte Partnerschaft anbieten sollte. Wäre der europapolitische Amoklauf der CSU nicht derart ärgerlich, könnte man damit tatsächlich eine Menge Spaß haben."

Philipp Krämer Berlin

Deutschland muss mehr Gewicht in Brüssel erhalten

"Zu Recht thematisiert die CSU den deutschen Einfluss in Europa. Leider packt sie den Stier nicht bei den Hörnern. Die deutsche Sprache, obwohl eine der drei Arbeitssprachen, ist im täglichen Gebrauch im Vergleich zum Englischen und Französischen nicht existent. Von vielen internen Dokumenten und Schriftwechseln kommt eine deutsche Version entweder gar nicht oder verspätet heraus. Kein Fortbildungskurs wird in Deutsch angeboten. Osteuropäische Kollegen sind enttäuscht, dass sie mit ihrem Deutsch so wenig anfangen können. Und deutsche Mitarbeiter im höheren Dienst der Kommission liegen einer offiziellen Statistik von 2007 zufolge auf dem vierten Platz, obwohl wir die größte Volksgruppe darstellen."

Dr. Wolfgang Steinborn Bonn

Politikkabarett

"Diese Diskussion unter deutschen Politikern ist einfach 'einmalig' - verwendbar für das Kabarett! Dabei hat das Bundesverfassungsgericht nur etwas ausgesprochen, was in unserem Politikbetrieb selbstverständlich sein sollte: Die Abgeordneten des deutschen Bundestages haben 'Stellung' zu nehmen zu den Initiativen der EU-Kommission!

Das diese Stellungnahmen bisher kaum erfolgt sind - 'Durch winken' hat nichts mit Stellungnahme und Votum zu tun! - ist die Schuld der Abgeordneten. Die Abgeordneten müssen in der Zukunft 'explizit' Verantwortung übernehmen und dürfen sie nicht nur der Regierung überlassen. Die 'Verantwortungslosigkeit' des deutschen Bundestages was Europa angeht, ist mit dem Karlsruher Urteil zu Ende. Die Bundesregierung braucht ein präzises, nachprüfbares 'Mandat'.

Indirekt hat das Bundesverfassungsgericht den Abgeordneten auch zu verstehen gegeben, dass im Grundgesetz nichts von 'Vorbildfunktion Deutschlands für Europa' steht. Das 'die Anderen in Europa auf Deutschland sehen' - wie in einem Kommentar zu lesen war! - kann auch als Drohung verstanden werden, sollten aber die Abgeordneten nach diesem Urteil nicht ernst nehmen.

Völlig deplatziert sind die Belehrungen von Herrn Grosser. Außerdem sind sie irreführend, unvollständig und falsch: 1. Es gibt nach dem Vertrag von Nizza 136 Themenfelder, die vom EU-Rat und Parlament entschieden werden können. Dabei gilt je nach Problemkategorie die 'einfache Mehrheit', die 'qualifizierte Mehrheit' und schließlich die Einstimmigkeit. Mit dem Vertrag von 'Lissabon' sind es 180 Themenfelder, die dieser Prozedur unterworfen sind.

2. Frankreich hat im sog. 'Luxemburger Kompromiss' (1966) ein sog. 'Vetorecht' zu allen Entscheidungen der EU-Rat und - Kommission durchgesetzt. Die Gültigkeit dieses 'Veto-Rechts' hat Präsident Chirac bei der Ratifizierung des Nizza-Vertrages im französischen Parlament ausdrücklich bestätigt. Das heißt: Frankreich war auf einem 'Sonderweg' - Deutschland hat mit dem BVG-Urteil lediglich mit Frankreich 'gleichgezogen'!

3. Jean Monnet als einen Vater der Deutschen Einheit zu bezeichnen ist einfach falsch: Es war dieser Herr Staatssekretär Monnet, der 1950 in die USA gereist ist um sich bei US-Außenminister Dean Acheson zu beschweren, daß dieses '2 / 3 Deutschland' (Westdeutschland) schon wieder mehr Stahl produziert als Frankreich. Das sei für Frankreich nicht akzeptabel! Dean Acheson erwiderte im kalt, daß die französisches Regierung annehmbare Vorschläge machen solle, ohne irgendwelche Demütigungen für Deutschland. Robert Schumann verstand diese Botschaft und es wurde die Montanunion aus der Taufe gehoben. Was lernen wir daraus: Dean Acheson war ein Vater der 'Deutschen Einheit'; in keinem Fall Jean Monnet. Im übrigen ist es nur lächerlich bei genauer Sicht auf 400 Jahre französische Politik überhaupt einen Franzosen als 'Vater der Deutschen Einheit' zu bezeichnen."

Reinfried Brunsch Freising

EU-Skeptiker entmündigen

"Wie es scheint, ist die europäische Bevölkerung (und offenbar auch ein Teil der Medien) einfach nicht demokratiefähig. Wie sonst ist dieser dumme Euro-Skeptizismus zu erklären? Um der europäische Idee von Demokratie und Frieden nun endlich zeitnah zum Durchbruch zu verhelfen, hilft nur eines: Die 80% Bürger, Richter und Journalisten, die nicht mit aller Kraft die EU-Verfassung befürworten, sind unverzüglich zu entmündigen.

Solche Menschen können doch nicht über Wohl und Wehe der restlichen 20% entscheiden! Schließlich ist für klarsichtige Politikprofessoren klar, dass nur eine starke EU langfristig verhindern kann, dass Deutschland wieder kriegerisch über seine Nachbarn herfällt. Und die Verfassungsrichter 'ahnen nicht mal' was sie mit ihrem Urteil anstellen..."

Martin Rapolder Rechtmehring-Holzkram

Anti-Europa

"Der Europa-Artikel von Thomas Kirchner verdient starken Beifall. Er hätte nur noch härter mit den Europakritikern ins Gericht gehen können. Am 9. Mai 1950 hat Frankreich die Bundesrepublik zur Beteiligung an der europäischen Integration eingeladen. Damit hat es die Tür für den Wiedereintritt Deutschlands in die Völkergemeinschaft geöffnet.

Ich war erst vier Jahre zuvor aus einem französischen Kriegsgefangenenlager nach Deutschland zurückgekehrt, und als ich zu den ersten europäischen Verhandlungen in Paris stieß, wurde mir bewusst, was der damalige Startschuss für eine erste europäische Gemeinschaft für uns Deutsche bedeuten würde. Jedermann war sich damals angesichts der Alliierten Hohen Kommission im Klaren, was Einschränkung der Souveränität war, ohne einer akademischen Belehrung aus Karlsruhe zu bedürfen. Bis heute ist es gelungen, auch die meisten osteuropäischen Staa-ten, die unter dem NS-Staat, seinem Krieg und seinen Verfolgungen beson-ders gelitten haben, in der Europäischen Union auch mit Deutschland zu vereinigen.

Statt die Erinnerung an diese jüngste Geschichte wach zu halten, mäkeln CSU-Politiker an der Europäischen Union, am Lissabon-Vertrag herum. Der Gauweiler-Forderung nach Rückkehr zur D-Mark ist seine Verfassungsbe-schwerde zu dem neuen Vertrag gefolgt. Die CSU-Politik zielt darauf ab, den Einfluss von Bundestag und Bundesrat auf Europa zu verstärken und Europa damit zu renationalisieren.

Es ist erschreckend, dass eine international höchst angesehene englische Zeitung aus Anlass der Karlsruher Lissabon-Entscheidung am 13. Juli 2009 den Geist des wilhelminischen Reichs nach Bismarck hat walten gesehen. Was würde sie wohl zur Europapolitik der CSU sagen? Vielleicht dass sie Gefahr läuft, ein in sechs Jahrzehnten mühsam wieder gewonnenes deut-sches Ansehen zu beschädigen."

Prof. Dr. E. Steindorff München

Über die Köpfe der Bürger hinweg

"Es zeugt nicht gerade von viel Demokratie-Verständnis und Verfassungstreue des Herrn Winter, wenn er gegen unser höchstes Verfassungsgericht und gegen redliche Kämpfer für Demokratie wie Herrn Dr. Gauweiler derart einseitig polemisiert. Genau diese 'dynamische europäische Entwicklung' über die Köpfe der Bürger hinweg ist es doch, welche den Bürgern das 'Gemeinsame Europa' so suspekt macht. Unser Parlament ist gefordert, und das ist richtig so. Sonst entmachten die Bürokraten in Brüssel unsere verfassungsmäßigen Institutionen ganz!"

Walter Filser Taufkirchen

Autistisch und selbstgerecht

"Über die Außenansicht von Herrn Professor Bieber (zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes) könnte man /frau viele Worte verlieren,

- etwa den Hinweis auf die Gewachsenheit der EU als eines zunächst als Wirtschaftsbündnis geplanten - und heute weite Teile der Wirtschaft maßgeblich bestimmendes / durchdringendes, allerdings selbst für viele Produzenten und Dienstleister (von den ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen ganz zu schweigen) verworren-intransparentes Gebildes,

- oder über das jahrzehntelange Versäumnis, die grundlegende Frage auch nur anzugehen, ob denn nun die EU ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sein respektive werden wolle,

- in diesem Zusammenhang auch über das jahr(zehnt)elange Versäumnis, dieses 'Gebilde' auf transparent-legitimierten Boden zu stellen, an dessen Bereitung die BürgerInnen partizipieren können (nicht, den sie ex-post-facto hinnehmen / bestenfalls in Volksabstimmungen abnicken müssen).

Zu all diesen und weiteren (wesentlichen) Aspekten sich fach- und sachkundig zu äußern gibt es klügere Leute, auch und gerade in der SZ. Vor dem Hintergrund meiner Profession möchte ich es bei folgendem Kommentar belassen:

Herrn Professor Biebers Auslassungen beruhen, und dies ziemlich offensichtlich, auf Reaktionsbildung bzw. Umkehrung (im Freud´schen Sinne), und sind: Projektion. Viele, sehr viele europäische BürgerInnen nehmen die EU so wahr, wie Herr Professor Bieber das Dt. Bundesverfassungsgericht wahrnimmt: autistisch und selbstgerecht."

Petra Gotzler München

Die Furcht der CSU

"Wovor fürchtet die CSU sich? Vor isländischen Fischdampfer auf dem Stanberger See? Als überzeugter EU-Deutscher plädiere ich für folgende Lösung: Bayern steigt aus der Bundesrepublik Deutschland, der EU einschließlich der Euro-Zone aus, befreit sich somit von Angela Merkel, der SPD, dem Rauchverbot und der EU-Subventionsaufdeckungspflicht, und schafft sich eine eigene Währung: den Bajuwar und den Simpel, wobei 100 Simpel = 1 Bajuwar."

Hartmut Heinrich Hamburg

Wenn Deutschland die dritte Geige spielt

"Sollte Deutschland wegen der Beachtung des BVerfG-Urteils wirklich nur die dritte Geige spielen, dann dürfte das eigentlich keine wesentliche Auswirkung auf das Orchester EU haben, da ein Ausfall der dritten Geige in einem Orchester kaum zu bemerken ist. Ganz anders die Feststellung des Herrn Winter :'Das würde Europa schweren Schaden zufügen, denn ohne den deutschen Antrieb wird Europa zu einem Projekt für die Geschichtsbücher'. Wenn das europäische Denk- und Argumentationsschule ist, wird der europäische Gedanke schwierig zu vermitteln sein.

Weiter: Die europäische Einigung sei nicht von außen über Deutschland gekommen, sondern das Ergebnis '...einer freiwilligen Entscheidung der Völker.' Da ist Herr Winter aber nicht gut informiert.Das deutsche Volk hatte leider nie die Möglichkeit einer freiwilligen Entscheidung zur EU. Dies natürlich deshalb nicht, weil die regelmäßig veranstalteten Umfragen in Deutsch­land immer ein ablehnendes Ergebnis hierzu zeige,.

Im übrigen wurden ja bekanntermaßen in anderen EU-Ländern bereits Abstimmungen durchgeführt mit immer negativen Ergeb-nissen-Diese Situation mag sich Herr Winter ja noch schön reden. Vollends unverschämt und inakzeptabel ist es aber, wenn Herr Winter die obersten Hüter unserer Verfassungsgrundsätze im Rahmen ihrer richterlichen Kompetenz in eine Ecke mit 'Querköpfen und Linken' stellt."

Günter Haas Freilassing

© SZ vom 25.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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