23. April 2009:Das lange Warten auf Gerechtigkeit

Lesezeit: 3 min

NS-Verbrecher sind inzwischen alt und gebrechlich - soll ihnen trotzdem der Prozess gemacht werden? SZ-Leser diskutieren.

Zu Berichten über den mutmaßlichen KZ-Wächter John Demjanjuk meinen Leser:

SZ-Leser diskutieren, ob John Demjanjuk der Prozess gemacht werden soll. Im Bild: sein Dienstausweis aus dem Jahre 1942. (Foto: Foto:)

Gewissenloser Diener des Systems

"Deutschland hat die Chance auf Wiedergutmachung: 8.000 KZ-Wächter gab es während des Dritten Reiches, davon sind 20 gefasst und zwölf verurteilt. Die Mörder leben weiterhin unter uns, werden gepflegt in Pflegeheimen oder arbeiten vielleicht noch als Beamte im Staatsdienst?

Ich bin sehr dankbar, dass ich 20 Jahre nach dem Kalten Krieg, dem Ende des Zweiten Weltkrieges, insbesondere auch nach dem Kinofilm 'Der Vorleser' - diese Diskussion erleben darf. Der Verbrecher flüchtet sich nun in die Krankheit, in die Altersschwäche, sicher wird daraus eine Demenz, und in die 'Menschenwürde', die er bei 29.000 Menschen im Alter von 23 Jahren vergessen hat. Er war kein Kriegskind, sondern ein Mann, der skrupellos und gewissenlos dem System gedient hat. Wieso hat Demjanjuk mehr Rechte als die Menschen, die er in den Tod geschickt hat?

Auch wenn damals "Kriegsrecht" galt, steht Demjanjuk für alle nicht gefassten, getäuschten, aus dem Lande verschwundenen, mitlaufenden "KZ-Wächter". Den Rest seines Lebens hat er hinter Gitter zu verbringen. Er hat die Chance, am Ende seines Lebens sich der Realität zu stellen, damit die Seelen der ermordeten Opfer in den Familien endlich ihren Frieden finden."

Heike Streithoff, München

Gebrechlichkeit hebt Schuld nicht auf

"In der Tat: Wahrheit verjährt nicht und es darf niemals sein, dass noch mehr Täter des größten Menschheitsverbrechens überhaupt, des Holocaust, ihre Schuld mit ins Grab nehmen. Es ist der große Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass sich für die Verfolgung vieler Nazi-Verbrechen die bundesdeutschen Behörden nur kaum interessierten. Allein diese Tatsache ist schon nicht wiedergutzumachen.

Wer sich an die politischen Auseinandersetzungen um die Verjährung von Mord in den 60er und 70er Jahren erinnert, der muss insbesondere den deutschen Konservativen vorhalten, dass sie ihr Gewissen oft zu Gunsten der Täter abgestellt hatten. John Demjanjuk und den anderen sich noch auf freiem Fuß befindenden Nazi-Verbrechern müssen im Namen von Menschlichkeit und Gerechtigkeit nun endlich die Prozesse gemacht werden. Sie müssen für ihre Untaten zur Verantwortung gezogen werden.

Es kann und darf nicht sein, dass die Ermordung unzähliger Menschen ungeklärt und ungestraft bleibt. Gebrechlichkeit kann niemals Schuld aufheben. Auch die von den Nazis geschundenen, gequälten und ermordeten Menschen haben Familien, die bis heute auf Gerechtigkeit warten. Es wird leider immer unwahrscheinlicher, dass sie diese eines Tages noch erleben werden. Doch bei der Verfolgung der Nazi-Gräuel darf es niemals Ruhe geben."

Manfred Kirsch, Neuwied

Kein Bedürfnis nach Strafe

"Ich halte es für falsch, so lange Zeit nach einer Tat noch Strafverfahren durchzuführen. Der Fall Demjanjuk wäre ein Anlass, noch einmal darüber nachzudenken, ob es wirklich klug war, dass man vor dreißig Jahren die Unverjährbarkeit von Mord beschlossen hat. Denn alle Gründe für die Verjährung von Straftaten, insbesondere das Schwinden des Bedürfnisses nach Strafe, gelten für Mord viel mehr als für manche andere Straftat. Zum Beispiel für die schwere Körperverletzung, unter der das Opfer in der Regel bis zu seinem Lebensende leidet.

Wenn es aber einem solchen Täter gelingt, sich bis zum Ablauf der Bewährungsfrist der Strafverfolgung zu entziehen, darf er auch dann nicht mehr bestraft werden, wenn er die Tat zugibt und nicht bereut. Das kann man in der Tat als unerträglich empfinden. Den Opfern solcher Straftaten könnte man daher mit guten Gründen einen Anspruch zubilligen, dass die Täter 'nicht ohne staatlich festgestellte Schuld das Zeitliche segnen'. Tote können aber nicht mehr leiden.

Mordopfer, also Tote, können auch kein Bedürfnis nach Strafe haben und keinen Anspruch auf die Feststellung der Schuld des Täters. Wenn daher gegen die Verjährung der schweren Körperverletzung keine Bedenken bestehen, gilt das erst recht für die Verjährung von Mord.

Der Satz 'Wahrheit verjährt nicht' ist zwar richtig, in diesem Zusammenhang aber irrelevant. Denn es ist nicht die Aufgabe der Strafrichter, die Wahrheit um der Wahrheit willen zu ermitteln. Ich war selbst fast 30 Jahre Strafrichter. Der Strafrichter hat die Wahrheit zu erforschen, weil er einen Angeklagten nur bestrafen darf, wenn zweifelsfrei feststeht, dass er eine Straftat begangen hat. Für die Erforschung der historischen Wahrheit aus anderen Gründen sind nicht die Strafrichter, sondern die Historiker zuständig."

Wolfgang Pfeifer, Waldfeucht

© SZ vom 23.04.2009/brei - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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