18. März 2009:Sensationen per Handy

Lesezeit: 7 min

SZ-Leser diskutieren über das Handeln der Medien nach dem Amoklauf von Winnenden und die Rolle der Schulen bei der Ursachenforschung.

Zur Berichterstattung nach dem Amoklauf von Winnenden, insbesondere zur Rolle der Medien, schreiben Leser:

Die Homepage des Internetforums Twitter, in dem viele Kommentare und teilweise falsche Informationen zum Amoklauf in Winnenden eingingen. (Foto: Foto: dpa)

"Nach dem Leiden der Opfer sind Schaulustige das Schrecklichste an Katastrophen und 'Sensationen'. Menschen, die die Verzweiflung der Beteiligten für einen geeigneten Anlass halten, ihr Handy zu zücken und die Szene im Bild festzuhalten. Sie behindern Einsatzkräfte und verhöhnen die Gefühle der Menschen in Not.

Einem solchen sensationsgierigen 'Fotografen' hat die Süddeutsche Zeitung mit drei (nebenbei völlig aussagelosen) Fotos Vorschub geleistet, die auf Seite 3 veröffentlicht wurden. Alle Handybesitzer mögen sich dadurch aufgefordert fühlen, den nächsten Selbstmordkandidaten auf einer Dachkante vor, oder besser noch bei seinem Sprung abzulichten oder beim nächsten Schusswechsel sich und andere zu gefährden, um in die beste Position für eine Aufnahme zu gelangen, nur damit diese - seine - Bilder eventuell auch in der Zeitung veröffentlicht werden. Als Redaktion haben Sie Mitverantwortung, solche Tendenzen nicht zu fördern."

Thomas Krause, Bremen

Keine Bilder, keine Namen

"Wenn Sie selbst wissen, dass die exzessive Berichterstattung über Amokläufer Nachahmungstäter anzieht, die auch mit Name und Bild in die Zeitung kommen wollen, dann sollten Sie daraus die Konsequenzen ziehen.

Folgende Vorschläge: Erstens sollten grundsätzlich keine Bilder von Amokläufern in der Zeitung gedruckt werden, schon gar nicht aus selbst gedrehten Videos (Letztere sind schließlich die Bilder, die die Täter selbst von sich in Umlauf bringen wollen).

Zweitens sollten Sie keine Namen von Amokläufern drucken. In dem Lesebuch, das ich in der 1. Klasse hatte, hatte der Junge, der dauernd etwas falsch machte (auf die Straße rennen...), einen Kunstnamen, damit kein echtes Kind mit ihm identifiziert wurde; vielleicht könnten Sie einfach für jeden Täter ein lateinisches Wort als Name verwenden, am besten eins auf -us, damit es weder wie ein deutscher Name noch wie ein ausländischer Name klingt."

Susanne Nieß, Eching

Ein letzter Auftritt

"Über Ereignisse wie den Amoklauf zu berichten sowie nach Erklärungen und Ursachen für eine solche schreckliche Tat zu suchen, ist zweifellos die Aufgabe unserer Medien. Den Kommentar von Thomas Steinfeld halte ich für sehr hilfreich, zeigt er doch, dass einseitige Ursachenforschung nicht weiter hilft.

Er zeigt aber auch die Verantwortung der Medien, die meiner Meinung nach durch reich bebilderte Berichterstattung diesen Menschen, die sich offensichtlich als Verlierer fühlen, noch einmal die Möglichkeit zum öffentlichen Auftritt geben, um noch einmal 'beachtet zu werden', noch einmal der Gesellschaft 'einen Denkzettel zu verpassen'. Warum verzichten Sie in solchen Fällen nicht auf jegliches Bildmaterial?"

Lisa Schepers, Ahrensburg

Mystifizierung des Mörders

"Seit einem knappen dreiviertel Jahr abonniere ich nun schon die SZ, die ich zu den seriösesten Zeitungen Deutschlands zähle. Doch was mir heute Morgen im 'Thema des Tages: Der Amoklauf von Winnenden' auf Seite 2 vorgesetzt wurde, das hatte schon Boulevard-Niveau.

Da lese ich im Interview mit Britta Bannenberg, 'Rache an der ganzen Welt', auf die Frage, 'Wie hoch sind die Nachahmungseffekte bei Amokläufern?' folgende Aussage: 'Sehr hoch. Auch wegen der Medien, die das Gesicht des Täters, seine Waffen, seine schwarze Kleidung zeigen und ein mytisches Bild zeichnen'.

Und was fiel mir beim Aufschlagen der Seite als erstes ins Auge? Die Fotos von den 'unsterblich' gewordenen Amokläufern Sebastian B. (inklusive Waffen und fast schwarzer Kleidung) und Robert Steinhäuser - keine zehn Zentimeter unter dem genannten Interview.

Hiermit hat die SZ doch ein klassisches Eigentor geschossen, hat sich mit Hilfe einer einfachen Aussage selbst vorgeführt. Wie müssen sich potentielle künftige Täter bestätigt fühlen, wenn selbst eine seriöse Zeitung die Bilder von Amok-Tätern aus dem Archiv holt und genau dadurch zu der von Britta Bannenberg angesprochenen Mytifizierung der Täter beitragen? Ich hoffe, dass es sich um einen einmaligen 'Ausrutscher' gehandelt hat."

Björn Langer, Bonn

Schnelle Nachrichten ohne Qualität

"Was will uns der Artikel 'Spezielles Tempo' im Medienteil sagen? Dass ARD und ZDF nicht schnell genug über den Amoklauf in Winnenden berichtet haben? Dies impliziert, dass die Reaktionszeit der Redaktionen ein Maßstab für Qualität sei.

Sind tiefergehende Informationen nicht aber etwas Wertvolles in dem täglichen Gedöns von 'Breaking News' und 'Laufband-Nachrichten'? Oder ist es ein Luxus, den sich nicht einmal mehr öffentlich-rechtliche Sendeanstalten leisten können?

Ganz abgesehen davon, dass der daraus resultierende Informationsmangel kompensiert wird durch das weitere Ausschlachten immer schon erzählter Geschichten: Killer-Spiele, Schießsport-Verein..."

Daniel Pötzsch, Leipzig

Bitte mehr Zurückhaltung

"Auch der Süddeutschen Zeitung ist leider ein gewisser Grad an Schizophrenie bei der Berichterstattung zu unterstellen. Die Medien übertreffen sich an Details des Ablaufs des Amoklaufs. Dem Südwestrundfunk wird in der SZ gar vorgeworfen, er hätte sich als zuständige Anstalt der ARD zu spät am Tag des Amoklaufs Live aufgeschaltet - nämlich erst gegen 12 Uhr.

Eine Liveberichterstattung, die im Kern Heerscharen von vermumten, bewaffneten Polizisten zeigt, ist nicht in die Kategorie 'Information' sondern in die Kategorie 'Voyeurismus' einzustufen. Und dann wird am darauffolgenden Tag in der SZ berichtet, man befürchte Nachahmer dieser Bluttat.

Wäre es nicht angebrachter, solche Ereignisse sehr wohl zu berichten, aber nicht derart reißerisch auszuschlachten? Dies wird bei Suizidereignissen erstaunlich konsequent praktiziert. Als SZ-Leser würde ich mir hier mehr Zurückhaltung wünschen."

Thomas Kunz, Aschaffenburg

Details für Nachahmer

"Auch die Medien sind mit Schuld an solchen Taten. Immer wieder möchten die Täter wenigstens mit ihrem spektakulären Abgang einmal ganz groß rauskommen. Wenn die Medien dann den Täter mit Portrait und Details ununterbrochen veröffentlichen, hat er sein Ziel erreicht.

Für Nachahmer ist es genau das falsche Zeichen, denn auch sie sehen darin ihre Chance endlich einmal ·es allen zeigen zu können. Die Medien leisten hierbei einen Bärendienst für die nächsten Opfer. Es ist an der Zeit, dass sie sich zusammensetzen und absprechen. Die Täter dürfen nur noch genauso anonymisiert dargestellt werden, wie man es mit den Opfern auch macht.

Für die Bevölkerung spielt es sowieso keine Rolle, wie der Täter heißt oder aussieht. Und den Nachahmern entzieht man die Grundlage für einen medialen Auftritt. Solange die Medien hier nicht ihr Verfahren ändern, machen sie sich mit schuldig an den nächsten Opfern."

Burkhard Schneider, Großweil

Die Gerüchteküche von Twitter

"In 'Liebe Presse, ich weiß doch auch nichts' wird über 'deutsche Medien', die sich in der Gerüchteküche von Twitter verliefen und über unzureichende journalistische Standards anderer Medien berichtet. Diese sehe ich allerdings auch bei der SZ in diesem Fall grob mißachtet. Hier ging Schnelligkeit eindeutig vor Sorgfalt.

Ein Hauch von Sebnitz liegt über dieser journalistischen Fehlleistung. Es ist zu billig, auf Informationspannen des Innenministers zu verweisen. Gerade die schnellen Antworten sind selten die besten und Meldungen aus den Chatrooms sind mit äußerster Vorsicht zu genießen. Hier hätten die Alarmglocken klingeln müssen! Warum nicht wenigstens 'Attentäter soll Tat im Internet angekündigt haben'?

Ich hoffe, daß sich die SZ auch kritisch mit der eigenen Fehlleistung im Umgang mit dem Attentat beschäftigt und nicht nur auf andere Schuldige verweist."

Dr. Dietrich Pöhle, Weinböhla

Zu den Ursachen des Amoklaufs von Winnenden, insbesondere über die Rolle der Schule, schreiben Leser:

"Wenn man wie ich als Schulleiter täglich mit Schülern zu tun hat, geht einem so eine Wahnsinnstat besonders unter die Haut. Wann und wo trifft uns das nächste Mal das Entsetzen? Die Ohnmacht, die man fühlt, mischt sich allerdings mit einem ohnmächtigen Zorn, wenn man (zum wievielten Mal eigentlich?) die prompten Statements unserer Politiker und bestimmter Medienexperten zur Kenntnis nehmen muss.

Die Brutalität und Perversion, die täglich über die Medien auf unsere Kinder und Jugendlichen hereinbricht, ist also wieder einmal 'nicht primär' schuld für die Gewaltexzesse, unter denen immer wieder so viele unschuldige Menschen leiden müssen? Die Eltern und Lehrer sollen es wieder einmal richten?

Jede Ohrfeige, der damit nicht das Wort geredet werden soll, wird heutzutage verantwortlich gemacht für psychische Probleme oder gar das Versagen von Heranwachsenden, aber der tägliche Konsum unsäglicher Bilder von Gewaltvideos oder Killerspielen durch Jugendliche soll keinen entscheidenden Einfluss auf schwerwiegende Verwerfungen in einer jugendlichen Psyche haben?

Der Gesetzgeber greift doch ständig in die Freiheiten der Staatsbürger ein (Rauchverbot, Helm- und Gurtpflicht undsoweiter), nur beim Medienkonsum muss grenzenlose Freiheit, auch für das Ausleben der letzten Perversion gelten? Warum schrecken unsere Politiker davor zurück, hier Grenzen zu setzen?

Doch wohl, weil sich mit der Triebnatur des Menschen Milliardengeschäfte machen lassen, da will man es sich mit den Lobbyisten und der Medienindustrie nicht verderben. Bei so viel scheinheiliger Debatte kann es einem nur schlecht werden."

Günther Strödel, München

Eine Schule, die bildet

"Der Tatort Schule ist für Amokläufer gezielt gewählt. Dort erfährt er das, was ihn zu solchen Taten treibt. In der Schule spiegelt sich auf kleinstem Raum für den Schüler die gesellschaftliche Missstände wieder.

Arbeitete das früher die noch intakte anwesende Familie auf und ab, muss das immer mehr die Schule tun. Schule muss somit von der reinen Wissenschule und Belehranstalt zum Ort des Lernens mit allen Sinnen werden. Dazu gehört der Lehrer als Vertrauensperson für den Schüler. Nicht das Fach, der Schüler steht für diesen Pädagogen (Erzieher!) im Mittelpunkt. Dazu müssen Lehrer diagnostische und therapeutische Kompetenzen erwerben.

Familie erzieht, Schule bildet - das ist out. Gewalttaten von Schülern treten vor allem in Ländern auf, wo getrennt wird zwischen Schule als zuständigem Ort für Bildung, Familie für Erziehung. Eine Schule für alle ohne Noten und Leistungsdruck im 45 Minuten -Takt, in Ganztagsform gestaltet mit viel Spiel, Sport, Kultur. Kurzum mit Lust am Leben!"

Harald Dupont, Ettringen

Schüler ohne Stigma

"Fassungslosigkeit und Unglauben, verschiedenste Erklärungsversuche und Rufe nach Waffenverbot; Aber Tim war eigentlich sehr normal. Das bundesdeutsche Schulsystem dagegen basiert bis heute auf Auslese im besten darwinschen Sinne. Schüler mit zu vielen Problem müssen die Schule vorzeitig verlassen und werden sogar der horrormäßigen Erfahrung einer Psychiatrischen Klinik ausgesetzt. Dass der Junge danach weitere Hilfe ablehnte, überrascht mich nicht.

Man stelle sich vor, es gäbe an Schulen in der Bundesrepublik Schulpsychologen, Psychotherapeuten und Berater wie an australischen Schulen. Man stelle sich vor, dass deren Hilfe von den Schülern mit Selbstverständlichkeit und ohne Stigma während des Schultages in Anspruch genommen würde; Lehrer wären ausreichend über Depression informiert und in der Lage, zu helfen, ohne junge Menschen für psychisch krank zu erklären.

Die derzeitigen Interpretationen einiger Psychologen und Kriminalexperten zeigen einmal mehr, wie die Gesellschaft Erfolg willkürlich definiert. Tim war nicht erfolglos, denn Loser gibt es nur in unseren Köpfen."

Stefan Mummert, Glen Huntly (Australien)

Das Fundament bröckelt

"Heute beurteilen wir wichtige Unternehmen und Banken danach ob sie 'systemrelevant' sind. Ja, unsere Jugend, unsere Schulen, unsere Lehrer und Eltern sind systemrelevant. Es ist Zeit großräumig umzusteuern, kleine Kurskorrekturen - um ja keine Interessen zu stören - sind zu wenig. Schulleiter, Kultusminister, Unternehmer, Lehrer und Eltern erkennen das und stellen die persönliche Verantwortung wie auch die soziale Verantwortung in das Zentrum ihres Handelns.

Die Verzweiflung aller Beteiligten rührt auch daher, dass wir merken, dass es unaufhaltsam ans Eingemachte geht, auf allen Ebenen. Und dass Fassadenrenovierungen nicht mehr genügen, es geht ums Fundament. Nehmen wir diese Zeichen der Zeit an und schaffen Familien-, Lern- und Arbeitswelten, in denen Menschen sich wohl fühlen. Schulen, in die Lehrer und Schüler gerne gehen. Betriebe, die ihre soziale Verantwortung annehmen. Familien und Partnerschaften, die uns stärken und wachsen lassen."

Mathias Voelchert, München

© SZ vom 18.03.2009/brei - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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