17. April 2009:Ein ganz normales Leben...

Lesezeit: 3 min

... aber nur, wenn man sich unterordnete und nicht nach Freiheit sehnte: Wie das System DDR funktionierte - die Sicht der SZ-Leser.

Zu den Beiträgen " Natürlich ein glatter Unrechtsstaat" vom 6. April und "DDR war ein Unrechtsstaat" vom 11. April schreiben Leser:

Die Zeit hinterlässt an manchen Zeugnissen der DDR-Vergangenheit ihre Spuren - doch die Diskussion über sie bleibt lebendig. Im Bild: ein ehemaliger Grenzstein in Mödlareuth. (Foto: Foto: dpa)

"Der Berliner Senator Sarrazin meint, 90 Prozent der DDR- Bürger hätten ein normales Leben geführt. Ja, wenn man sich unterordnete, ergeben und duckmäuserisch war, schizophren dachte - so man eine eigene Meinung hatte -, ideologisches Geschwafel ohne Nachdenken wiedergab, wenn man sich nicht nach kostbarer Freiheit sehnte - ja, dann ist das Leben 'völlig normal' verlaufen.

Im Übrigen, wenn man zwischen DDR-System und den Menschen unterscheiden soll: Jedes System besteht aus Menschen. Eine Diktatur kann sich nur halten, wenn es genügend Mitläufer gibt."

Angelika Feustel, München

Aus der Vergangenheit lernen

"Die Rechtsstaatdebatte ist nicht neu. Durch die Äußerungen des Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering, hat diese aber neue Impulse bekommen. Er hat sein Amt übernommen, um im Interesse und zum Wohl aller Bürger dieses Landes zu wirken. Deren Mehrheit hat aber in der DDR gelebt und diese miterlebt.

Die Gesellschaft ist jetzt auch hier pluralistisch. Daher besteht Anspruch darauf, auch unterschiedliche Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Gestaltung der Gegenwart einzubringen. Neue Vorschläge und Konzepte dürfen nicht deshalb diskreditiert werden, weil es in der DDR schon etwas Ähnliches gab. Ich denke, dass der Ministerpräsident diesen berechtigten Anspruch begründen und den Bürgern Selbstvertrauen geben wollte - nicht mehr und nicht weniger.

Ist allein der Maßstab von 'Rechts- und Unrechtsstaat' ausreichend, um alle DDR-Erfahrungen bei der Gestaltung von gesellschaftlichen Strukturen mit einem Tabu zu belegen? Ebenso wie mit dem Begriff der 'Diktatur' wird oft für diejenigen eine Hürde aufgebaut, die andere als die eingefahrenen Wege in unserer Gesellschaft gehen wollen.

Man sollte daher die Frage diskutieren: Welche Erfahrungen aus der DDR sind mit unserer heutigen Zeit vereinbar?"

Dr. Wolfgang Tautz, Güstrow

Satellitenstaat ist Unrechtsstaat

"Da die Sowjetunion ein Unrechtsstaat war, war naturgemäß auch der Satellit DDR ein Unrechtsstaat, in dem sich die Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten einrichten mussten. Jeder der sein Leben in den heute unvorstellbar schweren Nachkriegszeiten und auch danach gemeistert hat, hat Respekt verdient, unabhängig davon, ob er nun zufällig eine Ost- oder eine Westbiografie hat."

Rainer Wehn, Gräfelfing

Deutsche Duckmäuser

"Die nicht enden wollende Debatte - einmal mehr von Bundestagsvize Wolfgang Thierse angeschoben -, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht, übersieht das Wesentlichen eines jeden Staates - die darin lebenden Bürger. Im Falle der DDR war es eine Mehrheit, die - so lange ein Dagegensein gefährlich war - es nicht nur bis zum Schluss aushielt, sondern sich darin mehr oder weniger bequem eingerichtet hatte.

Der DDR-Staat war für deren Bewohner mehrheitlich kein oktroyierter Fremdkörper, sondern ihre Heimat. Nicht anders die Stasi, die gern als böses, quasi außerirdisches Monster beschrieben wird, das über die armen Bürger herfiel. Wer die recht flexiblen Toleranzgrenzen des Systems nicht überschritt, merkte nicht nur nichts von der Stasi.

Die Stasi war zudem konsequenter Ausdruck einer kleinbürgerlichen Geistes- und Lebenshaltung der Mehrheit der Bürger, geprägt von Sozialneid, deutscher Duckmäuser-Tradition und eines zur Staatsdoktrin erhobenen tief verwurzelten Minderwertigkeitskomplexes proletarischer Massen gegenüber Weltoffenheit, Wettbewerb und Wohlstand.

Das Problem der Ostdeutschen ist nicht die Frage der Recht- oder Unrechtmäßigkeit der DDR oder die 'faire' Bewertung ihrer Biografien durch andere, sondern die unverändert ausstehende selbstkritische Aufarbeitung einer von Verlogenheit, Selbsttäuschung, Naivität und Opportunismus geprägten Lebenshaltung - dessen Folge die DDR war, nicht die Ursache.

Die alte BRD hat fast vierzig Jahre gebraucht, bis es salonfähig war, kritisch über die vielfältigen NS-Wurzeln dieses Staates zu reflektieren. Bei den Ostdeutschen wird die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion kaum schneller reifen."

Andreas Bubrowski, Neustadt

Mehr Mitgefühl für die Opfer

"Einige der Aussagen von Erwin Sellering waren schlicht inakzeptabel. Sicher sollte der Alltag der Menschen in der DDR differenziert betrachtet werden. Dennoch sollte auch nicht vergessen werden, dass jetzt in der weltweiten Finanzkrise immer offener die Untaten der SED verklärt oder sogar noch nachträglich als eine zwingende Notwendigkeit im Kampf gegen die Reaktion verteidigt werden.

Mein Vorwurf ist, dass hier bewusst nicht wenige Opfer erneut verhöhnt werden. In diesem Kontext fehlt mir bei Herrn Sellering die Fähigkeit zur Empathie mit den Opfern dieser Diktatur. Auch von der SPD wünsche ich mir deutlichere Worte an so mancher Position der Linkspartei."

Markus Erich-Delattre, Hamburg

© SZ vom 17.04.2009/brei - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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