02. Juni 2009:Das sieche Grundgesetz

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Deutschlands Verfassung krankt am Föderalismus und an häufigen Wahlen - gegen diese Leiden gibt es jedoch ein Mittel, finden SZ-Leser.

Zu Berichten und Kommentaren (" Ein Liebeskummer-Brief", 17. Mai) zum Thema 60 Jahre Grundgesetz sowie zur Wahl des Bundespräsidenten schreiben Leser:

Tausende feierten am 23. Mai in Berlin "60 Jahre BRD" und damit auch das Grundgesetz. Aber fehlt es der "alten Dame" an "Vitalität und Schwung"? (Foto: dpa)

"Heribert Prantl hat Liebeskummer, denn der Angebeteten - dem Grundgesetz - gebricht es an Vitalität und Schwung. Drum wünscht er ihr schlicht neue Kraft. Doch die Jubilarin, der nun landauf landab Elogen gesungen werden, muss durchschnittlich alle halbe Jahr zum Schönheitschirurgen. Hier ein Lifting, dort eine Prothese, schöner wird sie nicht und kräftiger schon gar nicht. Ja, sie leidet gar an doppelter Auszehrung. Und weit und breit niemand, der den Mut hätte, die richtige Medizin zu verabreichen.

Die erste Krankheit ist die 'Föderalitis', die schubweise Lähmung an Haupt und Gliedern hervorruft. Jahrelang warten wir auf den digitalen Polizeifunk, aber die 16 Länderinnenminister können sich nicht einigen. Sind wir halt die Letzten in Europa und um ein paar überflüssige Milliarden ärmer, wen schert's? Kultusministerkonferenz? Eine Lachnummer! Solange unsere Provinzpolitiker ein eitles Schaulaufen nach dem anderen auf dem Rücken der Bürger (des Souveräns!) veranstalten können, sind sie zufrieden.

Die zweite Krankheit ist die Electionitis, deren spezifisch deutsche Ausprägung dafür sorgt, dass ein paar tausend anonyme Parteitagsdelegierte und hinterbänklerische Funktionäre alle vier Jahre mehr als die Hälfte aller Bundestagsabgeordneten bestimmen können. Das Ergebnis der anschließenden Wahl ist praktisch unabhängig von der Beteiligung des Bürgers und seines Abstimmungsverhaltens. So werden die Lobbyisten ganzjährig in Champagnerlaune gehalten und der findige Bürger merkt schon, dass er nur geduldet ist in der demokratisch getünchten Fassade, und quittiert mit dramatisch sinkender Wahlbeteiligung.

Die alte Dame 'Grundgesetz' trägt aber um den Hals eine kleine Phiole mit einem Zaubertrank. Es ist drin ein Tropfen des wahren Jungbrunnens, eingegossen in den Artikel 146 GG. Wer ihn ihr verabreicht, wird schnell sein wahres Wunder erleben: Die alte Dame wird sich im Handumdrehen in ein starkes, schönes Weib verwandeln mit einem bis dahin nicht gekannten Charme! Ausgestattet mit Mehrheitswahlrecht auf der Grundlage von etwa 500 Wahlkreisen, gewandet in sechs oder sieben strapazierfähige Länder, und abgeworfen liegt das Stachelhalsband mit dem Namen Bundesrat im Straßenstaub, angelegt aber hat sie das Diadem der Volksabstimmung!"

Roland Hinke Bernau

Carlo Schmids verkannte Rolle

"Als gebürtiger Kölner schätze ich Konrad Adenauers Leistungen sehr. Das Fundament für unseren Staat (und damit auch für Adenauers Leistungen) legte aber als Verfassungsbaumeister Carlo Schmid. Seine richtungweisende Rolle in der Gründungsphase unseres Staates wird leider fast völlig ignoriert."

Rüdiger Wittkämper Königswinter

Mehr Demokratie durch Volksentscheide

"Zu Recht fällt Andreas Zielckes Diagnose der Demokratie alarmierend aus. Ich selbst will und wollte mich auch früher nicht als rechthaberischer Zaungast verhalten und bin deshalb vor geraumer Zeit in eine Partei eingetreten. Zurückblickend möchte ich meine fünfjährige Mitgliedschaft nur als desillusionierend bezeichnen. Dennoch muss unsere Demokratie nicht im 'Treibsand' untergehen. Gelingen könnte dieses Vorhaben vielleicht, wenn man die Macht der Parteien einschränkt. Beispielsweise durch die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene und die Begrenzung von Legislaturperioden bei Abgeordneten auf höchstens vier. Engagierte und am Gemeinwesen interessierte Bürger sind in der Lage, weitreichende Entscheidungen zu treffen, ohne dazu speziell ausgebildet zu sein."

Bernhard Greger München

Gelungene Kür des Bundespräsidenten

"Die Bundespräsidentenwahl darf in der Tat als gelungene Kür betrachtet werden. Denn dadurch, dass es zu keiner knappen Kampfabstimmung in einem späteren Wahlgang gekommen ist, entging die Demokratie der heiklen Situation, dass womöglich die Stimmen der NPD über den Ausgang entschieden hätten.

Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass ein Ruck durch die Parteien geht, damit das Volk sich sein Staatsoberhaupt endlich selbst aussuchen darf. Diese ausgestreckte Hand wäre das schönste Geschenk zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik und ein gutes Mittel gegen Politikverdrossenheit!"

Rasmus Ph. Helt Hamburg

Der Ersatzkaiser hat ausgedient

"Deutschland braucht keinen Bundespräsidenten. Wer wird die bemühten moralinsauren Redebeiträge zu den Fragen, die Deutschland bewegen, vermissen? Warum müssen Gesetze, die die höchste demokratische Instanz, nämlich die Volksvertretung, passiert haben, noch durch den Bundespräsidenten unterzeichnet werden? Traut der Staat dem Parlament nach 60 Jahren immer noch nicht? Braucht Deutschland ein knappes Jahrhundert nach dem ersten Weltkrieg noch einen Ersatzkaiser oder - noch schlimmer - einen Ersatzreichspräsidenten?

Nein! Die identitätstiftende Instanz ist durch die Geschichte längst überholt und zum Repräsentieren haben wir die Spitzen der Regierung. Schauen wir doch mal über den großen Teich, dann sehen wir was? Keinen König, keinen Kaiser, aber einen Regierungschef, der zwar Präsident heißt, aber alles kann und macht. Na bitte, es geht also auch ohne. Werfen wir doch zum 60. Jahrestag den Ballast über Bord und verschlanken den Staat bei einem Gewinn an Demokratie!"

Matthias Musiol München

Sparkassendirektor schlägt Eloquenz

"Nach 60 Jahren soll nun auch weitere 5 Jahre die Mehrheit der deutschen Bevölkerung - nämlich ihr weiblicher Teil - von einem Mann repräsentiert werden. In der Bundesversammlung war alles säuberlich quotiert: die Parteien sowieso, die Bundesländer natürlich, innerhalb der Parteien die Bayern und die Franken, die Badener und die Württemberger usw. Wäre dem nicht Rechnung getragen worden, der Aufschrei wäre enorm.

Nur wir Frauen waren auch dieses Mal nicht ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend vertreten - und die Frauen protestieren nicht mal dagegen, leider. Sollte es auch daran liegen, dass ein freundlicher, aber eher mittelmäßiger Sparkassendirektor der charmanten, eloquenten, im Denken wie im Formulieren brillianten Frau vorgezogen wurde? Oder war es womöglich wirklich so, dass man(n!) schnell mit der Bundesversammlung fertig werden wollte, um endlich Bundesliga glotzen zu können? Hat dann womöglich Deutschland doch den passenden Repräsentanten bekommen (oder zumindest die männliche Minderheit der Bevölkerung...)? Dieses Land ist wohl noch immer nicht reif genug für zwei kluge Frauen an der Spitze."

Vera Niedermann-Wolf Rottweil

Dunkle Flecken in 60 Jahren

"Der Demjanjuk-Prozess und auch der dazu in Ihrer Zeitung gut abgefasste Artikel zeigen auf, dass es bei den Veranstaltungen zu 60 Jahre BRD und Grundgesetz eigentlich auch um ganz andere Dinge als nur eine elegante positive Sichtweise gehen sollte. Es geht nämlich in der Geschichte der BRD auch und gerade darum klar zu machen, welche Versäumnisse vor allem unter der Adenauer-Regierung und auch noch zum Teil lange Zeit danach zum Beispiel bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen bestanden.

Stattdessen wurden damals viele NS-Größen normal in den Nachkriegsstaat eingegliedert und dort oft später sogar noch geehrt. Auch diese dunklen Flecken gehören zur 60 Jahre BRD und 60 Jahre GG. Dazu gehören aber auch weitere negative Dinge, wie etwa die grundgesetzliche Aushöhlung des Asylrechts und manches mehr. Die BRD sollte nicht schön geredet werden, wo sie ihre dunklen Seiten hat."

Norbert Cobabus Rödermark

Otto Waalkes nackte Brust

"Man muss Otto Waalkes nicht mögen und kann daher das, was als dessen Humor bezeichnet wird, als spätpupertäres Kasperltheater abtun. Trotzdem aber: Seine nackte Brust auf der Tribüne ist mir immer noch lieber als über Menschen hinweg donnernde Kampfflugzeuge oder paradierende Panzer."

Peter Berger Heiligenhaus

"Wer weiß denn noch, was das bedeutet hat?"

"Bei den vielen Gedenkfeiern zum Jahr 1949, in Kürze feiern wir den Geburtstag unseres Grundgesetzes, einer Verfassung, die erstmals und umfassend Bürgerrechte garantiert. Vom kurzen Zeitfenster, in der das Jahrhundertwerk gelingen konnte, vom kühnen Blick nach vorn und vom schaudernden Blick zurück. So liest sich in der SZ dazu, am 18.5. 09.

Von 'Vor 49 enteignet', wie da so flott dahingesprochen wird und wurde, wenn es um das gewaltige Unrecht der Gebiets- oder Bodenreform geht, ist wenig bis aar nichts zu lesen. Wer weiß denn noch, was das vor 49 enteignet bedeutet hat'? Vertrieben wurden die, die das Kriegsende aussaßen auf ihren Gütern. Ostflüchtlinge hatten sie aufgenommen, während der Kämpfe verwundete Soldaten gepflegt, Russen wie Deutsche, grässlichste Unmenschlichkeiten durchgestanden und wurden dann vertrieben. In kürzester Zeit hatten sie Haus und Hof zu verlassen. Junkerland in Bauernhand war die Parole der neuen Machthaber. Auf 50 km durften sich die meist alten Herrschaften ihrem Besitz nicht nähern. Nie mehr.

Diesseits der Oder- Neißelinie wohlbemerkt, in Brandenburg und Sachsen! Anträge auf Rückübereignung wurden nach der Wende rechtzeitig gestellt und aber vor fast 10 Jahren negativ beschieden. Eine Entschädigungszahlung? Heute erfährt der Nachfragende am Amt für offene Vermögensfragen in Breeskow, es seien 2 Vi tausend Anträge noch zu bearbeiten. Sie seien eingeteilt in 3 Kategorien. Man könne einen Dringlichkeitsantrag stellen wegen Alters oder aus sozialen Gründen."

Anne von Haeften Utting

Der Rechtsstaat und die Wahrheit

"Ein Stasi - Spitzel ist ein Stasi-Spitzel. Ein Verräter ist ein Verräter. Ein Nationalsozialist ist ein Nationalsozialist. Ein Mörder ist ein Mörder. Eine Anstiftung zum Mord ist eine Anstiftung zum Mord. Ein 14-facher Mord ist ein 14facher Mörder. Ein Kriegsverbrecher ist ein Kriegsverbrecher. Eine Anklage ist eine Anklage. Eine Tat ist eine Tat. Ein Befehl ist ein Befehl.

Wieviel Macht hat ein Mensch über Menschen und deren Angehörige nur weil er die Verantwortung für seine Tat nicht übernehmen möchte? Braucht die Justiz wirklich sein Eingeständnis? Wie lange wollen der Rechts- und Sozialstaat und die Steuerzahler noch zahlen für das Schweigen und Mitlaufen der Täter und das nichtendende Leid der Angehörigen der Opfer und auch der Angehörigen der Täter?

Eine Wahrheit ist eine Wahrheit."

Heike Streithoff München

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