Zum Nordpol und zurück (XII):Ein Eisbrecher ist ein Eisbrecher!

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Will man einen Kapitän der russischen Nordmeerflotte beleidigen, muss man seinen Atomeisbrecher nur ein banales "Schiff" nennen. Ein Blick bis fast in den Reaktor.

Birgit Lutz-Temsch

Koordinaten: 79 Grad nördlicher Breite, 50 Grad östliche Länge (vor Kap Flora, Franz Josef Land). Geschwindigkeit: Pause. Temperatur: minus zwei Grad Celsius.

Wir verlassen Franz-Josef-Land am Nachmittag bei Nebel und Schneeregen. Der weiße Vorhang hat die Inseln im Nichts aufgelöst. Wir sind in der dunklen Barentssee. Und fahren auf Murmansk zu. Das Programm an Bord ist deshalb noch lange nicht vorbei: Der Hauptmechaniker gewährt Einblick in die Funktionsweise der Yamal. Diese, sagt Alexander Yelcheninov, der Hauptmechaniker, sei ein kleines Schiff. Klein deshalb, weil sie nur 150 Meter lang und 30 Meter breit sei.

Als Eisbrecher allerdings sei die Yamal groß und mächtig, mit einer Verdrängung von 23.000 Tonnen und 75.000 PS (das entspricht in etwa drei Düsenjets).

Will man den Kapitän, einen immer etwas griesgrämig dreinblickenden Herrn, verärgern, reiche es, seinen Atomeisbrecher ein einfaches "Schiff" zu nennen. "Vergessen Sie das nie: Ein Eisbrecher ist ein Eisbrecher. Kein Schiff", sagt Yelcheninov. Hätte er uns das mal früher gesagt.

Der Kapitän scheint ohnehin nicht allzu begeistert von der Touristenpartie. Die Trips mit Passagieren sind für die Mannschaft der Yamal nur ein Nebenerwerb. Ihre Hauptaufgabe ist es, im Winter den Handelsschiffen im Nordmeer und der Nordostpassage einen Weg zu bahnen. Zum Teil sind dafür sogar zwei Eisbrecher notwendig: Wenn die Eissituation schwierig und die Ladung des zu unterstützenden Schiffs besonders wertvoll ist.

Die Funktionsweise der Yamal ist einfach: "Im Wesentlichen fährt ein Eisbrecher durch das Eis, indem er es umfahrt", erklärt Yelcheninov. Eismeister und spezielle nautische Offiziere analysieren den ganzen Tag die Eissituation auf der Route. Sie unterscheiden dabei zwischen 200 unterschiedlichen Eistypen.

Und leiten die Yamal in einem fortwährenden Zickzackkurs um die dicksten Stellen herum. "Wenn ich das selbst versuche", sagt der Hauptmechaniker, "liege ich immer falsch."

Der Brecher schiebt sich auf das Eis. Drückt es mit dem eigens dafür geformten Bug ein. Und schiebt es dann zur Seite.

Wenn Platz ist.

Wenn der Eispanzer ganz dick und wenig Gelegenheit zur Verdrängung ist, muss die Yamal schon mal vor und zurück setzen. Es gibt Touren, auf denen das mehr als 1000 Mal der Fall ist. Bei unserer hat sich die Yamal nur ein einziges Mal festgebissen.

Im Sommer hat es die Yamal einfacher. Die Besatzung nur teilweise: Im Winter bewohnt die Crew die Kabinen, in denen jetzt die Touristen schlafen. Im Sommer müssen sie ihnen ausweichen und in den Mannschaftskabinen zusammenrutschen. Dafür dauert eine Tour nur zwei Wochen anstelle der sonst üblichen mehreren Monate.

Und es sind Menschen an Bord, mit denen man sich auch mal unterhalten kann. Die langen und beschwerlichen Fahrten durch die Dunkelheit bieten wenig Anreize für die Jugend, sagt Yelcheninov. Die Eisbrecherflotte kämpfe mit einigen Nachwuchsproblemen.

Die Arbeitsabläufe werden von den Passagieren eher gestört: Nur zwei Mal sind bis jetzt bei der Yamal Schiffsschrauben beschädigt und der Einsatz von Eistauchern notwendig geworden. Beide Male auf Touristentrips.

"Die Brücke ist immer offen", erklärt Yelcheninov. "Das ist schon für die Passagiere, und manchmal auch für uns eine Abwechslung. Aber manchmal lenkt es auch ab."

Ausgestattet ist die Yamal eigentlich nicht für Passagiere. Das Restaurant ist klein. Die Bar im Haupttreppenaufgang ist eine kurze Tränke mit einer Messingreling, an der man sich gut festhalten kann. Ein praktischer Platz trotzdem, denn hier muss irgendwann jeder Mal vorbei.

44 Mal ist die Yamal schon mit Passagieren zum Nordpol gefahren. Und bekommt bald Konkurrenz. Ihr Nachfolgeschiff, das zukunftsweisend "50 Jahre Sieg" heißen soll und an dem etwa seit diesem Jubiläum gebaut wird, soll den Passagieren mehr Komfort bieten.

Aber Komfort ist es ohnehin nicht, was die Yamal zu einem faszinierenden Schiff macht. Es ist die Technik.

Und vielleicht gerade der Umstand, dass sie eigentlich nicht als Passagierschiff gedacht war. Manchen Touristen ist die Ausrüstung zu simpel. Manche mögen sie gerade deshalb.

Wegen der anspruchsvollen Arbeit, die die Yamal auf ihren Wegen verrichten muss, hat der Brecher einen doppelten Boden und doppelte Wände. Die sind jeweils aus 46 Millimeter dickem Stahl, wobei es am Bug am dicksten ist, am rundum gehenden fünf Meter hohen Eisgürtel bei 32 Millimeter liegt und nur an den ungefährdetsten Stellen oberhalb der Wasserlinie auf zehn Millimeter zurückgeht.

Fahrt bekommt die Yamal über drei Schiffsschrauben: Im Durchmesser kommen diese auf fünfeinhalb Meter, bei einem Federgewicht von 50 Tonnen. Alle drei Monate müssen die Taucher an Bord ins Wasser, um die Schrauben zu überprüfen. Wenn nicht zwischendurch etwas passiert.

Wegen der niedrigen Wassertemperaturen kann ein Schaden hier sehr langwierig sein: Die drei Bordtaucher dürfen pro Tag maximal zwei Stunden arbeiten. Das kalte Wasser zehrt an den Kräften.

Auf unserem Sommerausflug zum Nordpol hat die Yamal lange nicht ihre ganze Leistungsfähigkeit gebraucht. Deshalb schaffen es zu dieser Jahreszeit auch dieselbetriebene Brecher an den Pol. Dennoch brauchen sie dafür etwa vier Wochen statt der einen der Yamal.

Die beiden Reaktoren der Yamal sind in der Schiffsmitte eingebaut. In einer speziellen Schutzhülle. Durch ein isoliertes Fensterglas können wir die unspektakulär aussehenden Kästen begutachten. Fotos dürfen wir hier keine machen. Sonst überall.

Fünf Meter sind die beiden Reaktoren hoch und haben einen Durchmesser von einem Meter. Ihr Gewicht: 100 Tonnen. Pro Reaktor kommen 200 Kilogramm Uran zum Einsatz. Das halt fünf Jahre lang. Danach werden die Deckel oben in der Schiffsmitte geöffnet und die Brennstäbe ausgetauscht. Auf unserer Fahrt haben wir 200 Gramm Uran pro Tag verbraucht.

Im Vergleich: Ein Dieselschiff benötigt für die gleiche Reise 250 Tonnen Diesel täglich. "Viel sauberer!", sagt der Hauptmechaniker. Auch weil amtliches Schiffs-Abwasser vor der Ableitung in die See gereinigt wird. "Fauna und Flora bekommen von uns in keiner Weise Schaden", sagt er. Aber über die Endlagerung des Atommülls, der ganz gern und sauber einfach in der Barentssee versenkt wurde, redet er nicht.

Die atomgetriebenen Brecher sind außerdem billiger für Murmansk Shipping, die die Schiffe treuhänderisch verwaltet: Eine einmalige Beladung kostet etwa vier Millionen Dollar. Aus der Staatskasse allerdings. Den Diesel für die anderen Brecher muss die Reederei selbst bezahlen.

Das Funktionsprinzip des Reaktorantriebs ist folgendes: Der Reaktor erzeugt Hitze. Über einen Wasserkreislauf Dampf. Mit diesem Dampf werden zwei Hauptturbinen für den Schiffsantrieb versorgt, außerdem fünf Nebenturbinen für die restlich benötigte Energie auf dem Schiff.

Ein heißes Spiel

Die beiden Hauptturbinen treiben je drei Generatoren an, die liefern die Energie für insgesamt sechs Motoren, und die drehen die drei Schiffsschrauben. So einfach ist das. Gekühlt werden die Reaktoren über destilliertes Seewasser. Ausgelegt ist alles darauf, dass bei einem Ausfall eines tragenden Systemteils immer noch ein anderes einspringen kann.

Die drei Motoren werden direkt von der Brücke gesteuert: Dort befinden sich neben dem Platz des nautischen Offiziers drei Hebel. Die führen direkt in den Maschinenraum.

Dort dürfen wir alles fotografieren, was wir wollen. Im Kontrollraum allerdings müssen die Kameras wieder geschlossen werden. Hier haben die wachhabenden Ingenieure die Funktionen des Reaktors ständig im Blick. Vier Stunden dauert so ein Wachdienst. Als wir dort sind, fahren wir schon wieder in der freien See, es muss kein Eis gebrochen werden.

Die beiden Reaktoren erbringen gerade 40 und 20 Prozent ihrer Leistung. Und schaffen damit trotzdem 14 Knoten.

Die Hitze des Reaktors, die neben der Wasserkühlung gefiltert auch in die Luft abgegeben wird, ist im ganzen Schiff zu spüren. Heruntergefahren werden die Reaktoren nur, wenn der Brecher länger im Hafen liegt, weil die planmäßige An- und Abschaltung mehrere Tage dauert. Die dann überflüssig produzierte Hitze wird abgeleitet. Und jetzt wissen wir auch, warum es auf dem Volleyballplatz immer besonders warm ist: Wir spielen in ihm fast direkt neben dem Reaktorraum.

Von dort führen sehr warme Rohre aus dem Schiffsrumpf.

Ein heißes Spiel.

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