Zum Nordpol und zurück (XI):Die Schönheit des Tages und des Lichtes

Lesezeit: 7 min

Man sieht den Felsen nicht. Man hört aber, dass es dort im Nebel Leben gibt. Vögel. Aus dem Weiß taucht ganz langsam ein dunkler Schatten auf. Rubini Rock, Franz Josef Land.

Birgit Lutz-Temsch

Koordinaten: Am Sonntag um 6 Uhr: 80.18.51 nördlicher Breite, 52.39.93 östliche Länge. Geschwindigkeit: maximal 7 Knoten. Temperatur: zwei Grad minus.

Tichaya Bay (Foto: Foto: bilu)

Die Yamal ist die ganze Nacht durchgefahren, immer weiter aus dem Eis hinaus. Als wir morgens um vier Uhr zurückblicken, glitzert hinter uns am Horizont ein weißer Streifen auf dem Meer. Die Eisgrenze. Anstelle von Schollen driften nun immer öfter Eisberge an uns vorbei. Vor uns liegt Franz Josef Land mit seinen Gletschern, die in die See kalben und immer neue türkisfarbene Eisberge produzieren. Um vier Uhr ist die Luft klar, die Sicht gut.

"Wer die Natur wahrhaft bewundern will, der beobachte sie in ihren Extremen. In den Tropen, in ihrer vollsten Pracht und Üppigkeit, im strotzdenden Sonntagskleide, über dessen Betrachtung man nur allzu leicht geneigt wird, den Kern zu übersehen - an den Polen in ihrer Nacktheit, die aber umso klarer und deutlicher den großartigen inneren Bau hervortreten läßt. In den Tropen verliert sich das Auge in der Massenhaftigkeit der zu bewundernden Details, hier richtet es sich in Ermangelung dessen auf das imponierende Ganze, in Ermangelung des Productes auf die producirenden Kräfte. Nicht zerstreut und unbeeinflusst durch das Einzelne concentriert sich hier die Aufmerksamkeit auf die Naturkräfte selbst." (Carl Weyprecht)

Zwei Stunden später verliert man fast das Gefühl für oben und unten, so undurchdringlich ist der Nebel, durch den sich das Schiff schiebt. Mit ganz langsamer Fahrt jetzt nur noch. Passagiere sollen die Brücke zurzeit nicht betreten - die Navigateure brauchen Ruhe, die Yamal durch die Engstellen zwischen den Inseln zu lenken. Wir stehen also über der Brücke, dem höchsten für Passagiere zugänglichen Punkt der Yamal - was vielleicht dem sechsten Stockwerk über der Wasseroberfläche entspricht - und schweben durch das Nichts.

Dass in diesem Nebel etwas sein muss, ist hörbar: Vögel schreien. Immer wieder sticht eine Dreizehenmöwe aus der milchigen Suppe hervor. Dann, ein schwarzer Schatten. Langsam arbeiten die Augen aus dem schwer zu fokussierenden Weiß einen Felsen heraus. Ganz nah. Rubini Rock.

Doch der Nebel lichtet sich nicht, die Yamal muss abdrehen. Nach dem Frühstück wird es einen zweiten Versuch geben, wenn die Sicht besser ist.

"Seit einigen Tagen hatten wir eine den Meisten an Bord völlig fremde Welt betreten: Dichte Nebel umhüllten uns häufig, aus dem zerrissenen Schneekleide des noch fernen Landes starrten uns seine verfallenen Zinnen unwirthbar entgegen. Alles rings um uns predigte Vergänglichkeit; denn unausgesetzt herrscht das Nagen des Meeres und die geschäftige Emsigkeit des Schmelzungsprocesses an den Gefilden der Eiswelt. Bei bedecktem Himmel gibt es Nachts wohl kein melancholischeres Bild, als dieses flüsternde Hinsterben des Eises - langsam, stolz wie ein Festzug, zieht die ewige Reihenfolge weißer Särge dem Grabe zu, in der südlichen Sonne. (...) Prächtige Cascaden Schmelzwassers brausen gedämpften Glanzes in Schleiern herab von den Eisbergen, die sich selbstvernichtend und donnernd spalten im glühenden Sonnenstrom... Dann herrscht der Tag wieder und sein grelles Licht, vor dem alle Farbengluth und Traumhaftigkeit in Nichts zerrinnt." (Julius Payer)

Die Schrecken des Eises

Franz Josef Land, nur 900 Kilometer vom Nordpol entfernt, spielte und spielt in zahlreichen Nordpolarexpeditionen oft eine wichtige Rolle. Wie abenteuerlich solche Unternehmungen auch heute noch sein können, erzählt Expeditionsleiter Viktor Boyarski: Er war Teil einer vierköpfigen Gedächtnisexpedition zu Ehren der Entdecker und schildert, mit welchen Schrecken des Eises er dabei zu kämpfen hatte: Einbrechende Schlittenhunde, plötzlich auftauchende Eisbären, Hitze.

Die Expedition folgte vor zwei Jahren den Spuren der österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition der Polarforscher Julius Payer und Carl Weyprecht von 1872 bis 1874. Deren Ziel war die Entdeckung der Nordostpassage vom Atlantik zum Pazifischen Ozean - und die Eroberung von Land nordöstlich von Nowaja Semlja.

Ein Schiff wurde eigens für diese Expedition gebaut. Für die Admiral Tegetthoff, ein Dampfschiff mit einer Holzhülle von 200 Tonnen Wasserverdrängung und einer Maschinenleistung von 100 PS, gab es allerdings schon im August 1872, und damit schon um den 76. Breitengrad kein Weiterkommen mehr. Sie wurde vom Eis eingeschlossen.

Die Männer der Tegetthoff beschlossen 1874, Franz Josef Land zu verlassen und sich über das Eismeer nach Nowaja Semlja durchzukämpfen. Es gelang ihnen, nach mühevollen 96 Tagen des Kampfes mit dem Eis.

Expeditionen auf Atomeisbrechern haben es leichter. Weder müssen wir Hunde aus dem kalten Eis ziehen, noch droht unserem Schiff Gefahr, zerquetscht zu werden. Beim zweiten Versuch, Rubini Rock zu sehen, haben wir dann auch mehr Glück. Jetzt ist der gewaltige Basaltfelsen zu sehen, ein einstiger Vulkanschlot. Auf ihm ist die größte Vogelkolonie Franz Josef Lands beheimatet. Die Dickschnabellummen allerdings sind schon fortgezogen, es wird Herbst.

"Drohend entstanden Berge aus ebenen Flächen, aus leichtem Ächzen entstand ein Klirren, Brummen und Brausen, gesteigert bis zu tausendstimmigem Wuthgeheul (...) Stets wächst die Stärke des Druckes; schon beginnt das Eis dicht unter uns zu beben, in allen Tonarten zu klagen (...) Ein furchtbar kurzer Rhythmus des stoßweisen Geheuls verkündet die höchste Spannung der Gewalt. Dann folgt ein Krach, mehrere schwarze Linien irren ohne Wahl uber den Schnee. (...) Neue Massen brechen am Umfang unserer kleinen Scholle ab, steilrecht schwingen sie ihre Tafeln aus dem Meere, ein unermeßlicher Druck wölbt sie bogenförmig auf, ja in Blasen steigen die Felder empor, ein grausiger Hinweis auf die Elasticitat des Eises. (...) Und in diesem Wirrsal ein Schiff!"(Julius Payer)

"Nirgends auf der Erde kann ein Exil so vollständig sein wie hier, unter dem furchtbaren Triumvirat: Finsternis, Kälte und Einsamkeit." (Julius Payer)

Die eingeschlossene Tegetthoff driftet im Eis Richtung Nordwesten. Im August 1873 schließlich, als schon zum zweiten Mal der polare Winter beginnen will, sehen die Männer in den lichtenden Nebeln plötzlich Land vor sich.

"Wir standen an Deck, lehnten uns über die Reling und starrten ziellos in den Nebel hinaus, der unlängst an einigen Stellen aufgezogen war. Plötzlich verzog sich im Nordwesten der Nebel völlig und wir erblickten Klippen. Einige Minuten später bekamen wir eine überwältigende Sicht auf eine majestätische Berglandschaft und auf Gletscher, die uns in der Sonne blendeten. Für Sekunden waren wir ergriffen und wollten unseren Augen nicht trauen. Dann jedoch, von Gefühlen uberwältigt, schrieen wir laut Land, Land!" (Julius Payer)

Erst zwei Monate später erreichte die Scholle, auf der die Tegetthoff driftete, die Wilczek-Insel. Von dort erkundete Payer mit dem Beginn des Polartags 1874 das Archipel und erreichte mit Schlittenhunden den nördlichsten Punkt Eurasiens, das Kap Fligely.

Eben diesem Weg folgten bei der Gedächtnisexpedition im Jahr 2005 die vier Männer, zwei Russen, einer davon Viktor Boyarski, zwei Österreicher und der Schlittenhund Nanuk. Sie hatten ein anderes Problem als Payer: Anstelle von zu viel trafen sie auf zu wenig Eis. Dafür auf Eisbären. Der weiße Schlittenhund Nanuk, trainiert, um vor Polarbären zu warnen, hat viel zu tun.

Und es ist heiß. Den hundert Kilo wiegenden Schlitten zu ziehen, kostet Viktor so viel Kraft, dass er zum ersten Mal in seinem Leben neun Kilo abnimmt, und dabei ist diese Expedition bei weitem nicht die schwerste, die er bisher hinter sich gebracht hat. Sie erreichen ihr Ziel nicht. Nach 210 Kilometern, 35 Kilometer vor dem Ziel, geben sie auf Torup Island auf.

Den Rubini Rock sehen wir nur vom Schiff aus. Mit dem Helikopter fliegen wir dann in die Tichaja-Bucht auf Hooker-Island. Graue Holzhausskelette, zerfallene Kaminschlote, ein Flugzeughangar ragen hier stumm in den Himmel: die Reste einer russischen Forschungsstation, die von 1929 bis 1963 betrieben wurde. Jetzt erobert sich die Natur das Territorium zurück, wenn auch sehr langsam. Die Flechten und Moose, die in dieser unwirtlichen Umgebung gedeihen, brauchen Jahre, um auch nur ein paar Zentimeter groß zu werden. Als wir in der Bucht landen, donnert es. Ein Gletscher kalbt. Und schenkt uns eine Reihe türkisfarbener Eisberge als Kulisse.

Von der Tegetthoff-Expedition des 19. Jahrhunderts zu unserer Reise mit der Yamal gibt es noch eine weitere, kuriose Verbindung. Die Besatzung der Tegetthoff kehrte bis auf ihren Maschinist Otto Krisch wieder nach Österreich zurück.

"Ich habe bedeutende Schmerzen, überhaupt beim Aufathmen, und bin gezwungen, das Bett zu hüten, durch das immerwährende Krankeln bin ich sehr abgemagert und sehe schlecht aus, ich erschrak völlig als ich im Bade meinen abgezehrten Körper sah doch hoffe ich, das mich die Thrankur wieder herstellen wird." (Otto Krisch)

Wenig später aber lautet ein Eintrag im Logbuch: "16. Marz 1874, helles Wettern und Wind. Temperatur um -36 Grad. Nachmittag um halb fünf ist unser Maschinist Otto Krisch gestorben! Gott gebe ihm die ewige Ruhe!" (Johann Haller)

Krisch starb an Skorbut und blieb für immer auf Wilczek Island. Bei einem Vortrag über die Arktis lernt Sepp Friedhuber, Biologe und Geologe, der an Bord der Yamal Vortrage hält, Gabi Krisch kennen, die Tochter des Urgroßneffen des Maschinisten Krisch der Tegetthoff. Sie studierte in Salzburg Geografie. Durch Friedhuber erfuhr sie von der Möglichkeit, die Stelle zu besuchen, an der Krisch die letzten beiden Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Gemeinsam mit ihren Eltern also nahm sie an einer Fahrt eines Nachbarschiffs der Yamal, der Kapitän Dranitsyn, teil. Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet auf diesem Schiff ein Graf von und zu Königseck auf der Passagierliste stand.

Der wiederum war ein Nachkomme des österreichischen Grafen Hans Wilczek - der die Tegetthoff-Expedition von 1872-1874 mitfinanziert hatte. 131 Jahre nachdem sich Payer seinen anstrengenden Weg durch das Eis gebahnt hatte, standen hier also, an einem der unzugänglichsten Punkte der Welt, plötzlich die Nachkommen derer voreinander, die dieses Abenteuer einst gewagt hatten. Zufällig.

Viktor Boyarsky und Sepp Friedhuber lieben diese Geschichte. Eine halbe Stunde vor den Passagieren flogen sie damals die Krischs und Königsecks auf die Insel, an einem prächtigen Tag des polaren Sommers. Am Grab legen sie ein Blumengesteck nieder und halten eine kleine Gedenkfeier.

Für den Besuch dieses Ortes auf der Wilczek Insel reicht es auf unserer Reise leider nicht. Wir fahren am Nachmittag weiter zum Cape Flora auf Northbrook Island. Ein erster Versuch mit den Helikoptern scheitert: Das Wetter ist zu schlecht, und zudem halten sich im Landegebiet Eisbären auf.

Der nächste Versuch um 22 Uhr am Abend ist erfolgreicher: Die Nebel lösen sich völlig auf. Cape Floras Basaltfelsen liegt da, von einem leichten Schneefall schwarz-weiß gezeichnet.

Am Ufer färbt sich der Schnee rot und grün von Algen. Bewaffnete Männer postieren sich um uns, zum Schutz vor plötzlich auftauchenden Bären. Zwei Stunden streifen wir über die moosbewachsenen Ufer des Kaps, das sich in sumpfigen Pfützen, die sich auf dem Permafrostboden gebildet haben, spiegelt.

An die Ufer brandet das Nordmeer. Wie gut, dass wir später geflogen sind: Wir finden die Spur einer Eisbär-Pranke. Sie ist ungefähr fünfzehn Mal so groß wie eine Menschenhand. Der Tag geht spät zu Ende, in der silbrig blauen Mitternachtssonne über Franz Josef Land.

Die Zitate sind dem Buch "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" von Christoph Ransmayr entnommen, erschienen im Fischer Taschenbuchverlag 1987. Ransmayr hielt ebenfalls schon Vorträge auf Reisen der Yamal.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: