Zum Beispiel Venedig:Und was jetzt?

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Blick auf den Canal Grande. Nicht, dass es im November keine Touristen in Venedig gäbe. Dennoch geht es viel ruhiger zu als sonst. (Foto: mauritius images)

Der November ist ein schwieriger Monat zum Verreisen. Der Sommer ist vorbei, der Winter hat noch nicht begonnen. Aber es gibt ein paar Ziele, für die gerade die beste Zeit ist - zum Beispiel Venedig.

Von Jochen Temsch

Der stimmungsvollste Film, der je in Venedig gedreht wurde, spielt im Herbst. "Wenn die Gondeln Trauer tragen" aus dem Jahr 1973 verdichtet die morbide Atmosphäre des Zerfalls dieser Stadt zu düsterer Poesie. Donald Sutherland als Kirchenrestaurator John Baxter läuft nachts die Kanäle entlang durch enge Gassen, durchtrennt Nebelschwaden, stofflich dick wie Seidentücher, auf der Suche nach seiner kleinen Tochter. Sie ist beim Spielen ertrunken, ihm aber scheinbar wieder erschienen, eine winzige Gestalt in einem blutroten Kapuzenmantel, die vor ihm davonläuft und die er zu fassen versucht. Als es ihm eines Nachts in einem leer stehenden Palazzo schließlich gelingt, ist sein Schicksal besiegelt.

Zugegeben, diese Form von schwarzer Romantik ist nicht jedermanns Sache. Aber wer sich zumindest ein bisschen darauf einlassen kann und in der Ästhetik des Niedergangs auch eine gewisse Schönheit erkennt, der ist im November kaum irgendwo besser aufgehoben als in Venedig. Diese Anlegestelle für Kreuzfahrtschiffe, dieser vom steigenden Lagunenpegel bedrohte, sich langsam zum Freiluftmuseum wandelnde Ort, in dessen historischem Zentrum 54 000 verbliebene Einwohner jährlich von 25 bis 35 Millionen Touristen heimgesucht werden, dieses drastischste Beispiel für Zu-viel-Tourismus, kommt jetzt endlich einmal etwas zur Ruhe - bevor es ab Januar mit dem Karneval weitergeht.

Nicht, dass es im November keine Touristen in Venedig gäbe. Hier ist immer viel los. Aber als Besucher kann man jetzt flanieren, ohne anderen auf die Füße zu treten, man muss sich weder in die Vaporetti noch in die Restaurants quetschen, und wenn man frühmorgens auf der Rialtobrücke steht, kann man den Blick auf den Canal Grande ausnahmsweise genießen, ohne Angst haben zu müssen, von Selfiesticks über die steinerne Brüstung gefegt zu werden. Selbst auf den Markusplatz kann man sich in diesem Monat wagen, zumal vor Öffnung der Basilica di San Marco kurz vor zehn Uhr. Wer sich ziellos treiben lässt, etwa in Richtung Norden ins Viertel Cannaregio, spaziert hinein ins Venedig der Einheimischen, bis er schließlich im ehemaligen jüdischen Ghetto landet. Auf der einst abgeriegelten Insel spielen Kinder Fußball auf dem Campo de Gheto Novo, und wenn man hier auf einen Kaffee und ein süßes Teilchen in einer Bar einkehrt, kommt man auch noch mit dem Wirt ins Gespräch.

Der Grund dafür, dass gegen Jahresende vergleichsweise wenige Besucher nach Venedig kommen, ist natürlich die Witterung. So stimmungsvoll der Nebel ist, so klamm kriecht er einem schon am Nachmittag, wenn die Sonne nicht mehr zwischen die Häuser reicht, in die Knochen. Auch die Hotels und Pensionen sind nicht durchweg auf die niedrigen Temperaturen eingestellt. Heizungen, wenn überhaupt vorhanden, laufen gerne höchstens lauwarm im Land, in dem im Sommer die Zitronen blühen, und die Dämmung der Fenster ist schon mal auf dem technischen Stand der Dogen-Ära. Und das bei Temperaturen, die tagsüber kaum noch über zehn Grad liegen. Selbst die Lagune ist jetzt manchmal aufgewühlt. Was einen Novembergast Venedigs keinesfalls von einer Rundtour im Vaporetto abhalten sollte.

Die Dieselboote, die zu den öffentlichen Verkehrsmitteln zählen, schaukeln im Linienverkehr auch auf die umliegenden Inselchen. In Murano fallen jetzt nicht nur die Glasgeschäfte, sondern plötzlich auch wieder die Fischer auf, die es hier immer noch gibt. Ein Spaziergang auf der Friedhofsinsel San Michele bietet sich für einen melancholischen Zwischenstopp an. Und wer dann noch nicht durchgefroren ist, macht einen Strandspaziergang am Lido. Die weißen Badezelte, die im Sommer vor dem Grand Hotel Excelsior stehen wie ein Heerlager von Hedonisten, sind verschwunden, die Sonnenliegen weggeräumt. Es brennen nur wenige Lichter. Die palastartige, mächtig hohe Fassade des Hotels ist jetzt ein Memento-mori-Monument erster Güte. Es ist der Schauplatz von Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig". Auch in dieser Geschichte herrscht November, auch wenn sie im Sommer spielt.

© SZ vom 02.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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