Xian und die Terrakotta-Armee:Der tönende Mittelpunkt

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Xian ist mehr als das Tor zur Terrakotta-Armee: Die frühere Hauptstadt Chinas polarisiert durch ihre Dekadenz - das Leben findet auf der Straße statt.

Martin Amanshauser

Nach chinesischen Maßstäben klingt "Clio Coddle" wie eine hippe Modemarke. Wenn unter der Shop-Aufschrift noch ein grünes Krokodil mit hochgerecktem Schwanz prangt, dann steht fest: Es handelt sich um die lautmalerische Nachbildung des englischen Worts "crocodile". Auch bei den Waren handelt es sich um Nachbildungen westlicher Originale. China, das Land der weltmeisterlichen und ungenierten Copycats, hat eine Menge dieser halb oder ganz offiziellen Kuriositäten zu bieten. So kann man unter anderem in einem Geschäft namens "Arschkoerl" feine Hemden kaufen.

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Copperfield trat hier auf, und seit kurzem wurden wilde Partys auf der Großen Mauer gefeiert. Damit macht die Regierung nun Schluss. Und wehe dem, der beim Einritzen seines Namens erwischt wird.

Doch während die chinesischen Metropolen mittlerweile stark vereinheitlicht wirken, brennt das echte, unolympische, aber zutiefst chinesische Feuer in Städten wie Xi'an. Auch gebildete und weitgereiste Menschen fragen gelegentlich: Xi'an? Sian? Nur ein vages Gefühl? Selten bis nie gehört?

Doch, man sollte davon gehört haben, oder zumindest so tun als ob. Xi'an ist die Mitte des sogenannten Reichs der Mitte, war einst größte Stadt der Welt und mehr als tausend Jahre lang chinesische Hauptstadt. In China selbst polarisiert Xi'an: Man liebt oder hasst die dekadente Lebensweise der Zentralchinesen und ihren charakteristischen Dialekt, den sie selbst als Hochsprache bezeichnen.

Für Reisende ist Xi'an indes meist nur ein Sprungbrett zur größten Sehenswürdigkeit der Region: der Terrakotta-Armee. Neben "Clio Coddles" zeitgenössischem Einkaufswahnsinn, der die Nation prägt, bietet Xi'an eine freundliche Topographie, in der das alte Asien aufblitzt: in den Hinterhöfen mit den schmalen Straßen, wo der Trubel von Garküchen, Mah-Jongg-Spielen und Kleingewerbe ineinander übergeht, als wäre die Stadtlandschaft eine überdimensionale Wohngemeinschaft.

Gespielt wird lärmend und nicht zum reinen Vergnügen - es geht in China, sei es beim Mah-Jongg, sei es beim Schach, immer um Geld. Nur um die Ehre, dieser Gedanke wäre für Chinesen grotesk. Man ist ja kein Bettler.

Das Bettlertum unterliegt in Xi'an wenigen Restriktionen, doch die meisten halten streng ihren beruflichen Zeitplan ein, als hätten sie Genehmigungen: immer um die gleiche Zeit die gleichen Schlafenden, die gleichen Spielenden und die gleichen Bettelnden.

Da ist die junge, hübsche Frau, die von ihren Beinen nicht getragen wird. Im Rollstuhl, geschoben von einem winzigen buckligen Männchen, das Mikrofon in der Hand, haucht sie bei jedem kleinen Geldschein, der in ihren Becher fällt, ein "Xie xie" - Dankeschön. Ihre glockenhelle Stimme veranlasst viele Passanten, doppelt zu spenden, nur, damit sie das "Xie xie" wieder hören.

Ist die junge Frau bei Laune, zieht sie die Meute mit aktuellen Karaoke-Songs in Bann. Ihr Standortvorteil: Da sind immer sehr viele Chinesen, die einkaufen. Auch wenn wenige geben, kommt einiges zusammen.

Auf das gleiche Prinzip setzt der Krüppel vor der Kaiyuan Shopping Mall in der Nordstraße, der mit dem Kopf Ziegelsteine zweiteilt: ein Spektakel für Hunderte Neugierige.

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Rucksacktouristen reisten schon nach Thailand, bevor der Massentourismus das Land erschloss. Nun ziehen Backpacker zu diesen Städten weiter.

Andere haben kein Publikum, all die ganz gewöhnlichen Bettler, die am Straßenrand neben ihren Sammelbüchsen schlafen, ihre Krankheitszertifikate neben sich ausgebreitet: zum Beispiel die Eltern des Kindes mit dem Wasserkopf, die das nuckelnde, kleine Wesen in den Armen halten und für sich selbst sprechen lassen.

Für diese Krieger ist Xian berühmt: die Terrakotta-Armee. (Foto: Foto: AP)

Es hat hellweiße Augen, und die verdreht es manchmal. Eigentlich ist es zu groß, um im Arm gehalten zu werden. Doch es hat nie stehen gelernt.

Manchen Städten fehlt das Zentrum - Xi'an kann man das keinesfalls vorwerfen: Exakt in der Mitte der Innenstadt befindet sich der Glockenturm.

Er ist auch die Wurzel vier eleganter Hauptstraßen, benannt nach den Himmelsrichtungen. Den ausschließlich unterirdisch erreichbaren Koloss, eigentlich weniger Turm als Pagode, umgibt kein Graben, kein reißender Fluss, aber doch etwas Vergleichbares: ein Kreisverkehr, der täglich 24 Stunden lang nicht ruht.

Das Meisterbauwerk entstand erst im 14. Jahrhundert, als die politische Macht von Xi'an bereits Geschichte war. Doch der schauerliche Ton seiner Glocken - früher Signal für das Schließen der Stadttore, heute für zahlende Besucher abgespielt - weht mit Überzeugungskraft in die Himmelsrichtungsstraßen: der tönende Mittelpunkt der Welt.

Zwischen dem Glockenturm und seinem Bruder, dem einen halben Kilometer westlich gelegenen Trommelturm mit seiner Ausstellung alter Trommeln, die eigentlich nicht geschlagen werden dürfen und doch oft geschlagen werden, belebt sich die Szene am Abend. Fotografen mit Polaroidkameras bieten ihre Dienste an, Kinder hüpfen über die Wasserfontänen im Park.

Hinter dem Trommelturm beginnen die Gassen des muslimischen Viertels: Die chinesischen Moslems oder Hui-Chinesen leben hier seit mehr als einem Jahrtausend, ungestört von religiösen Querelen.

Ihre Vorfahren waren zentralasiatische Händler entlang der Seidenstraße, heute floriert das Kleingewerbe samt Ständchen mit Tintenfisch- und Innereienspießen. Das muslimische Viertel hat auch einen Touristenmarkt: wohl einer der wenigen Orte auf der Welt, an dem Besucher ganz automatisch ähnliche Preise wie Einheimische zahlen.

Vielleicht macht diese Unaufdringlichkeit den Unterschied zu den geldgierigen Städten an der Küste. Die Große Moschee aus dem 8. Jahrhundert, im Gassengewirr kaum zu finden, gibt ihrem Namen alle Ehre - fünf Höfe mit Pagoden, Schreinen und Minaretten, eine auf den ersten Blick absurde Mischung aus Nahem und Fernem Osten.

Gigantische, unbekannte Sehenswürdigkeit

Nur etwa 500 Jahre alt ist die ebenso unbekannte wie gigantische Sehenswürdigkeit der Stadt: die völlig intakte Stadtmauer von 20 Metern Höhe, die in einem 14 Kilometer langen Rechteck die Innenstadt Xi'ans mit ihrer Fläche von 99 Quadratkilometern umschließt, ein Bauwerk, wie es auf der ganzen Welt nirgendwo existiert.

Wer beim Südtor nach oben geht, kann sich ein klappriges Fahrrad mieten, denn die Stadtmauer ist begeh- und befahrbar. Es empfiehlt sich, vor dem Geschäft eine Proberunde zu absolvieren, denn ansonsten könnte man auf halbem Weg in die Verlegenheit kommen, das Rad selbst reparieren zu müssen.

Eine Runde dauert etwa 100 Minuten und bietet beeindruckende Blicke über die Stadt, auch in Privatwohnungen, wo, wie überall in China, häufig gegessen wird. An mehreren Stellen der Mauer, bei den Pagoden, gibt es kleine Ausstellungen; eine davon zeigt Waffen. Die Bildtexte sind geprägt vom Blickwinkel des Landes der Stäbchen.

Unter dem Stichwort "fork" liest man da auf Englisch: "Die Gabel wurde vor langer Zeit in primitiven Gesellschaften erfunden und zu Beginn im Fischfang und bei der Jagd verwendet. Später entwickelte sie sich zu einer Kriegswaffe."

Bei der Rundfahrt fällt auf, dass sich auch in Xi'an noch kein Markt für Dachterrassenimmobilien entwickelt hat.

Der Blick von innen nach außen ist angesichts vergitterter Fenster und Milchglas vielerorts in Asien anscheinend noch immer kein erstrebenswerter. Der Gedanke, die hübschen Flachdächer zu nutzen, kam offensichtlich bisher noch niemandem: eine schöne Spielwiese für Investoren des 22. Jahrhunderts.

500 Jahre alt, gewaltig und dennoch in der Welt kaum bekannt: die Stadtmauer von Xian. (Foto: Foto: iStock)

Qin Shihuangdi hat viel für China getan: die Nomaden aus dem Norden zurückgedrängt, beträchtliche Teile der Großen Mauer bauen lassen, eine einheitliche Zeichenschrift durchgesetzt. Und trotzdem ist der erste Kaiser Chinas seit 2200 Jahren so unbeliebt wie sonst nur Dschingis-Khan oder Tamerlan.

Er ließ in großem Stil Bücher verbrennen und Gelehrte ermorden.

Das alles geschah zwar vor langer Zeit, ab dem Jahr 247 vor Christus, doch während in Europa tyrannische Feldherren oft verherrlicht werden, haben die chinesischen Historiker diesem Mann nie verziehen.

Seine historische Bedeutung ist ungebrochen, die Dynastie der Qin gab China bekanntlich den Namen, und neuerdings findet sich Qin Shihuangdi als Held in Actionfilmen und Computerspielen wieder: als brutaler Bösewicht.

Unter Qin Shihuangdi wurde das Reich der Mitte erstmals geeint - seine Hauptstadt, Xianyang, lag ungefähr dort, wo heute der Internationale Flughafen liegt, nicht weit von den Muschelkalkbergen. Berühmt wurde die Region erst nach 1974, als chinesische Bauern auf die erste von Tausenden Terrakottafiguren stießen, lebensgroße Figuren als Grabbeigaben für den äußerst todesängstlichen Kaiser.

Wie alles in China ist das Erlebnis "Terrakotta" für Ausländer durchorganisiert - mit dem Nebeneffekt, dass jede Taxifahrt im Stadtgebiet Xi'ans zur Verhandlung werden kann, ob der Lenker einen statt an den gewünschten Zielort nicht doch lieber zu "Te Ua Kot Ta" fahren solle. Manche bieten sogar ihre Dienste als Fremdenführer an.

Doch die unterirdische Armee ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchaus zu erreichen. Im Norden der Stadtmauer befindet sich der imposante Bahnhof, von wo einen die Linie 306 für umgerechnet einen Euro in 75 Minuten und mit vielen Zwischenstationen zum Achten Weltwunder bringt. Es fahren fast nur Chinesen in diesem Bus - am Weg gelten die Thermalquellen von Huaqing als ebenso wichtige Sehenswürdigkeit.

"Te Ua Kot Ta", das bedeutet eine überdachte Halle und mehr als 2000 der ausgegrabenen Kriegerfiguren in Reih und Glied auf einer Fläche von 14.000 Quadratmetern. Weitere 6000 Figuren sollen noch im Schutt liegen.

Obwohl offizielle und selbsternannte Guides mit der Ankündigung, diese Vorgangsweise sei "notwendig", alle Besucher bestürmen, einen Führer ins Gelände mitzunehmen, ist davon abzuraten. Die eloquenten Guides spulen ihr Programm herunter, doch natürlich geben sie auf westliche Fragen vom Typus "Wie stark wurden die Figuren restauriert?" keine zufriedenstellende Antwort.

Sie erzählen, wie lange wie viele Personen mit der Restaurierung einer bestimmten Figurenanzahl beschäftigt waren. Das Ignorieren der Fragestellung ist weniger Anweisung der Regierung, sondern einfach Resultat einer für sie völlig unverständlichen Frage. Angesichts der großartigen Figuren wirkt das Interesse an archäologisch-historischer Wissenschaftlichkeit sinnlos.

Qin Shihuangdi würde sich wundern, könnte er den Trubel um seine steinernen Krieger sehen - und sich vermutlich grämen, denn sein eigenes Mausoleum zieht weniger Interesse auf sich. Er selbst wollte angesichts seines Todes mit seinem ältesten Sohn Frieden schließen und ihn zum Nachfolger bestimmen. Der Sohn war wegen Bücherverbrennungen und Gelehrtengenozid mit ihm in Streit und leistete Zwangsarbeit an der Großen Mauer.

Die Jobofferte erreichte ihn nie, ein anderer wurde Kaiser, die Qin-Dynastie ging unter.

Informationen

Reisearrangement: Avantireisen bietet 2010 wieder eine 75-tägige Busreise von Hamburg nach Shanghai mit einem mehrtägigen Stop in Xi'an an. Avanti Busreisen, Klarastraße 56, 79106 Freiburg,Telefon: 0761/3865880.

Rund- und Städtereisen in China mit dem Besuch von Xi'an bieten unter anderen der Hamburger Reiseveranstalter Chinatours an, Tel.: 040/8197380, sowie die Münchner Veranstalter Studiosus, Tel.: 089/500600, und Marco Polo, Tel.: 089/1500190.

© SZ vom 10.6.2009/kaeb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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