USA:Gut erholt

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Nach Hurrikan "Katrina" haben Tausende Freiwillige geholfen, New Orleans wieder aufzubauen. Noch heute, zwölf Jahre nach der Katastrophe, packen Touristen mit an. Auch sie profitieren davon.

Von Steve Przybilla

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(Foto: Gerald Herbert/AP)

Nur allmählich ist das Leben in das Lower Ninth Ward zurückgekehrt. Es gibt jetzt eine neue Highschool und eine Bibliothek, einen Mini-Supermarkt, mehrere Restaurants - und das Café Dauphine.

Die Leichen waren noch nicht geborgen, da fuhren schon die ersten Tour-Busse durch das Lower Ninth Ward. "Schrecklich", sagt Bruce Nolan und legt das Mikrofon kurz zur Seite. "Die Leute haben die Sofas aus ihren zerstörten Häusern geschleppt, während die Touristen sie dabei fotografierten. Stellen Sie sich vor, wie sich das angefühlt haben muss."

Zwei Dinge sollte man wissen, um diese Szene richtig einzuordnen. Nummer eins: Das Lower Ninth Ward ist das Viertel in New Orleans, das von Hurrikan Katrina am stärksten verwüstet wurde. Nummer zwei: Bruce Nolan war damals als Reporter selbst am Ort des Geschehens. Heute ist er im Ruhestand, verdient sich aber als Tour-Guide ein kleines Zubrot - in genau der Branche, die er selbst kritisiert. Um glaubwürdig zu bleiben, fährt Nolan deshalb nicht in das Lower Ninth Ward. Stattdessen geht es in den Lakeview-Distrikt, eine Insel des Wohlstands, die kurz nach dem Sturm wieder aufgebaut wurde. Manche Häuser stehen nun auf Säulen, vor einem anderen parkt ein Lkw in Militärfarben. "Der Besitzer will kein Risiko mehr eingehen", erklärt Nolan. "Unter der Plane lagert er Wasser und Lebensmittel." Je näher der Bus dem Lower Ninth Ward kommt, desto stärker wandelt sich das Bild. Von Unkraut überwucherte Brachflächen stehen neben frisch sanierten Häusern. Immer noch sieht man Ruinen mit eingefallenen Dächern. "Wer keine Versicherung hatte, konnte sich die Reparaturen nicht leisten", erzählt Nolan. "Viele haben die Stadt verlassen und sind nie wieder gekommen." Die Einwohnerzahl sei nach Katrina um 15 Prozent geschrumpft.

Das Unwetter, das im August 2005 über den amerikanischen Süden hereinbrach, hat die Stadt verändert: 85 000 Häuser zerstört, weitere 210 000 beschädigt. Zehntausende Menschen verloren ihre Existenz, mehr als 1500 ihr Leben. Auch das Vertrauen in die Regierung ging verloren. Es dauerte Tage, bis die Nationalgarde eintraf. Die Evakuierung verlief schleppend. Vor allem arme, schwarze Familien standen vor dem Nichts. Und dann auch noch die Touristen. Nachdem die ersten Gaffer durch das Lower Ninth Ward gerollt waren, beschwerten sich die Anwohner beim Stadtrat. Auf Gaffer, die ihre Fotos aus einer klimatisierten Fahrgastzelle heraus schießen, könne man getrost verzichten.

So weit, so verständlich. Doch nun kommt die Stelle, an der es kompliziert wird. Mit den Katastrophen-Touristen strömten nämlich auch mehrere Tausend Freiwillige nach New Orleans, die wirklich etwas taten: Bankmanager, Putzfrauen, Highschool-Kids - Aufbauhelfer aus allen Schichten und Regionen der USA. Erst suchten sie nach Verschütteten, später beseitigten sie Unrat, verlegten Fliesen, Parkett, Dachpappe. "Die vielen Fotos, die von New Orleans verbreitet wurden, haben ihren Zweck erfüllt", sagt Bruce Nolan. "Die Leute begriffen den Ernst der Lage. Dementsprechend groß war die Hilfsbereitschaft."

Natürlich - die Sicht eines Reiseleiters. Doch vieles spricht dafür, dass seine These stimmt. Wer heute durch das Lower Ninth Ward fährt, sieht nicht nur Ruinen und aufgebockte Autos, bei denen die Räder fehlen. Vor vielen Häusern stehen Schilder, die den Helfern danken. Auch Prominente engagieren sich: Brad Pitt baut mit seiner "Make It Right"-Stiftung eine Öko-Siedlung in dem Viertel. Hinzu kommen lokale Mäzene, die sich einsetzen. So wie Joe Blanchek, Hotel-Chef und Vorsitzender von "Habitat for Humanity", einer Hilfsorganisation, die nach eigenen Angaben 500 neue Häuser errichtet hat.

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Wenn Blanchek mit seiner Oberklasse-Limousine durch das Lower Ninth Ward fährt, wirkt er wie ein Exot. "Man sollte sich von meinem Anzug aber nicht täuschen lassen", betont der Geschäftsmann. "Ich komme selbst aus einer Arbeiterfamilie. Deshalb möchte ich diesen Leuten helfen, auf die Beine zu kommen." Blancheks Organisation ist eine der größten in New Orleans. Sie wendet sich vor allem an Firmenangehörige, die beruflich in der Stadt sind, etwa für eine Messe. "Oft hängen die Mitarbeiter freiwillig einen Tag dran, um zu helfen", so Blanchek. Da komme schon mal eine ganze Abteilung, um auf überwucherten Grundstücken Unkraut zu jäten. Auch zwölf Jahre nach Katrina stehen immer noch viele Häuser leer. Doch allmählich kehrt das Leben in das Lower Ninth Ward zurück. Es gibt eine neue Highschool und eine Bibliothek, einen Mini-Supermarkt, mehrere Restaurants. Auch der Tourismus erholt sich: 2016 kamen 9,7 Millionen Besucher in die Stadt; vor Katrina waren es zehn Millionen.

Die gezielte Vermittlung von Helfern stößt allerdings auch auf Kritik. Das "Living Museum", eine mit Spenden finanzierte Ausstellung im Lower Ninth Ward, findet klare Worte: "Bis 2010 kamen etwa zwei Millionen Freiwillige nach New Orleans", heißt es auf einer Schautafel. Wer für eine Woche kam, habe rund 1000 Dollar für Flug, Verpflegung und Unterkunft ausgegeben. "Wenn die Freiwilligen zu Hause geblieben wären und das Geld direkt an Hilfsorganisationen überwiesen hätten, hätte das Stadtviertel vier Mal wieder aufgebaut werden können." Was diese Rechnung vergisst: Auch Arbeitskraft gibt es nicht zum Nulltarif - außer bei Ehrenamtlichen. Laura Paul gehört ebenfalls zu den Kritikern. "Es existiert eine ganze Industrie von Freiwilligen-Schleusern", klagt die Geschäftsführerin des Vereins Lowernine.org. Ihr Tipp: Am besten den kleinen Vereinen helfen, die am Ort sind - zum Beispiel ihrem eigenen. Lowernine.org habe bereits 83 Häuser neu gebaut und mehr als 200 repariert.

"Ich bin froh über die ganze Hilfe", sagt Ronald Lewis. Der 65-Jährige wohnt seit Langem im Lower Ninth Ward; auch sein Haus wurde im Hurrikan zerstört. Nach dem Unwetter halfen ihm Studenten beim Wiederaufbau; heute betreibt er mit dem "House of Dance & Feathers" ein kleines Folklore-Museum. "Wir hängen hier alle am Tourismus", sagt Lewis. Just in diesem Moment kommt eine Studentengruppe aus Cincinnati durch die Tür. Was die jungen Leute hier wollen? "Lernen", antwortet die 22-jährige Michelle Indelicato. "Wir wollen die Geschichte der mutigen Leute hören, die schon so viel mitgemacht haben." Mit Zuhören allein sei es aber nicht getan. "Vorhin haben wir einem älteren Mann im Garten geholfen", sagt die junge Frau. "Wenn wir schon herkommen, können wir schließlich auch was tun."

© SZ vom 20.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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