Mit Ziel New York fährt die in Southampton ausgelaufene Titanic in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 über den Nordatlantik. Mehrere Funksprüche mit Eisbergwarnungen haben das Schiff erreicht, doch auf der gewählten südlichen Route fühlt man sich auf der Brücke des Luxusliners sicher. Diesen verhängnisvollen Irrtum werden mehr als 1500 Menschen mit dem Leben bezahlen. Die, die ihn überlebt haben, schilderten in Büchern, Radio- und Zeitungsinterviews ihre Erlebnisse.
14. April 1912, 23:40 Uhr: Die Titanic befindet sich etwa 300 Meilen südöstlich von Neufundland. Die See ist ruhig, die Nacht sternenklar und mondlos. 20 Minuten vor Mitternacht haben sich viele Passagiere in ihre Kabinen zurückgezogen. Die verhängnisvolle Kollision auf der vorderen Steuerbordseite nehmen die meisten kaum war. " Es fühlte sich nicht bedrohlich an," erinnert sich die Erste-Klasse-Passagierin Edith Russell Jahrzehnte später in einem Radiointerview, "eher so wie ein kleiner Schubser." Trotzdem neugierig geworden, will die Modejournalistin den Grund für den Rückstoß herausfinden.
"Ich warf einen Mantel über und trat von meiner Kabine aus auf das Promenadendeck. Vor mir sah ich eine graue Wand aufragen. Im ersten Moment dachte ich an ein Gebäude. Wir schrammten daran entlang und Eisstücke sprangen von der grauen Wand ab und landeten auf Deck. Zusammen mit anderen Passagiere sammelte ich die Eisstücke auf und wir fingen an, uns damit zu bewerfen. Wir veranstalteten eine Art Schneeballschlacht. Wir hatten Spaß."
23:50 Uhr: Unterhalb der Wasserlinie sind mehrere der vorderen Abteilungen des Schiffes auf einer Länge von 30 Metern beschädigt worden. Die Titanic hat bereits leicht Schlagseite nach Steuerbord. Der zweite Offizier Charles H. Lightoller hat eigentlich dienstfrei und liegt in seiner Kajüte auf der Backbord-Seite. " Ich lief gleich das Deck auf ganzer Länge ab, konnte aber nichts entdecken, was auf eine Kollision hindeutete", erzählt er 24 Jahre nach dem Unglück in einer Radiosendung. Wenig später wird er vom vierten Offizier Joseph Boxhall über den Zusammenstoß informiert. "Zuerst war ich nicht sonderlich beunruhigt. Doch als er sagte: 'Das Wasser steht bis zum F-Deck', musste er nicht mehr weiterreden."
15. April 1912, 00:10 Uhr: Die Besatzung beginnt, die Evakuierung vorzubereiten. Die Passagiere werden geweckt, die Abdeckungen von den Rettungsbooten entfernt und die Davits (Kranarme), an denen sie zu Wasser gelassen werden sollen, ausgeschwungen. Aus den Dampfablassrohren der Schornsteine entweicht der überschüssige Dampf aus den Kesseln. Das soll den Druck vermindern und die Gefahr von Explosionen verringern. Doch der Lärm an Bord ist ohrenbetäubend und erschwert die Verständigung. Offizier Lightoller, der die Evakuierung auf der Backbordseite organisiert, erinnert sich: " Mit Handzeichen deutete ich einem Mitglied der Mannschaft, dass er die Persennings der Rettungsboote (Abdeckungen) heruntermachen sollte. (... ) Kurz bevor die Boote klar waren, um ausgeschwungen zu werden, traf ich auf den Kapitän und schrie ihm durch meine gewölbten Handflächen ins Ohr: 'Soll ich Frauen und Kinder evakuieren?' Er nickte nur."
Auf der Steuerbordseite macht der erste Offizier William Murdoch, der zum Zeitpunkt der Kollision Dienst auf der Brücke und ein Ausweichmanöver versucht hatte, gemeinsam mit dem dritten Offizier Herbert Pitman Boote zum Beladen fertig. Sie fragen nach den ersten Frauen, doch keine tritt vor. So erzählt es auch Edwina MacKenzie in einem Radiointerview: " Man konnte die Leute einfach nicht in die Boote kriegen. Viele fühlten sich sicherer auf der Titanic als in den Rettungsbooten." Schließlich trauen sich doch noch zwei Frauen. Um das Boot wenigstens halbwegs zu füllen, schickt Murdoch Besatzungsmitglieder dazu. Boot Nr. 7 wurde mit 32 Menschen herabgelassen. Das Fassungsvermögen lag bei 65 Personen.
Jungfernfahrt der Titanic vor 100 Jahren:Die Reise begann mit einem bösen Omen
Die "Titanic" war das größte Passagierschiff der Welt und galt als unsinkbar - ein verhängnisvoller Irrtum. Vor 100 Jahren lief sie zu ihrer ersten und letzten Reise aus. Dabei ging die Jungfernfahrt schon mit einem bösen Omen los.
00:30 Uhr: Die Rettungsboote sind klar zum Abfieren (Hinablassen). Immer noch ist die Stimmung an Deck einigermaßen gelassen, schließlich war das Schiff mit dem Nimbus der Unsinkbarkeit in See gestochen. "Alles ging ruhig und ordentlich vor sich", erinnert sich einer der Geretteten später in der Zeitung San Francisco Bulletin. Das Schiffsorchester hatte sich in der Erste-Klasse-Lounge auf dem A-Deck postiert, um zur Beruhigung der Menschen zu spielen. Den Passagieren, die den ersten Sammelaufrufen an Deck gefolgt waren, wird erklärt, dass es sich bei der Evakuierung um eine reine Vorsichtsmaßnahme handele. "Es hieß, wir müssten uns keine Sorgen machen", entsinnt sich die damals erst siebenjährige Eva Hart in einem Interview. " Spätestens am nächsten Morgen sollten wir wieder zurück auf der Titanic sein. Viele Passagiere der ersten Klasse gingen wieder zurück in ihre Kabinen."
Die Modejournalistin Edith Russell hatte diese gar nicht nochmals verlassen. " Ich fand es ziemlich idiotisch, dieses hübsche, warme Schiff aufzugeben, nur um bis zum Frühstück wieder zurück zu sein. Ich legte mich ins Bett, um zu schlafen."
00:40 Uhr: Die ersten Boote werden zu Wasser gelassen - wegen der noch nicht vollständig bekannten Notlage und der schwierigen Verständigung an Bord nur mäßig besetzt. Zudem weigern sich viele Frauen, ihre Männer, Söhne und Brüder zurückzulassen. Mitglieder der Mannschaft werden handgreiflich, um die Order "Frauen und Kinder zuerst" durchzusetzen. Auch diese junge Frau muss gegen ihren Willen einsteigen: " Als ich ins Boot befördert wurde, rief mein Mann mir zu 'Das ist in Ordnung, kleines Mädchen. Du gehst. Ich werde bleiben'. Unser Boot wurde heruntergelassen, er warf mir noch eine Kusshand zu. Das war das Letzte, was ich von ihm sah."
Andere Passagierinnen haben banalere Gründe, warum sie nicht in die Boote steigen. " Mein Rock war so eng, ich wusste nicht, wie ich über die Reling kommen sollte", erinnert sich Edith Russell, die sich schließlich doch noch zur Flucht entschlossen hatte. "Ein Gentleman nahm mich um die Hüfte und warf mich kopfüber ins Boot."
00:45 Uhr: Die erste Notrakete wird abgefeuert. Zumindest die Seeleute begreifen nun, dass die Lage sehr ernst ist. Dabei suggeriert der äußere Eindruck das Gegenteil: Weil inzwischen die vorderen Abteilungen gleichmäßig vollgelaufen sind, richtet sich das Schiff aus der Steuerbordschlagseite zunächst wieder auf.
01:00 Uhr: Der Lärm aus den Dampfablassrohren verstummt. Die Kapelle versammelt sich zur Musikeinlage draußen auf dem Bootsdeck, wo sich die Passagiere inzwischen vor den verbliebenen Booten drängen. Die Titanic neigt sich nun merklich zum Bug hin, das spürt auch Charles Lightoller. "Zwischen dem Herunterfieren der Boote rannte ich das Deck entlang und spähte in ein Treppenhaus, das in das Schiff hinunterführte. Das kalte, grünlich schimmernde Wasser kroch Stufe für Stufe die Treppe hinauf - ein Anblick, den ich niemals vergessen werde."
01.15 Uhr: Die Wellen umspülen schon die Namenslettern der Titanic. Die Lage des Schiffes verschlechtert sich dramatisch. Passagiere, die bereits in den Booten sitzen, nehmen die deutliche Schieflage wahr - und erkennen, was dies zu bedeuten hat. " Jeder im Boot wollte so schnell wie möglich wegrudern", schildert Steward Frederich Dent Ray seine Erlebnisse in Rettungsboot 13. "Alle hatten Angst, vom Sog des untergehenden Schiffes mitgerissen zu werden." Auf dem Bootsdeck beginnt nun ein verzweifelter Kampf um die Plätze in den Rettungsbooten. " Ich sah einen Offizier, der zwei Zwischendeck-Passagiere niederschoss, als sie sich ins Boot drängten", berichtet ein Überlebender der Zeitung San Francisco Bulletin. "Inzwischen weiß ich, dass zwölf Passagiere erschossen worden sind."
02:00 Uhr: Das letzte Rettungsboot, ein Faltboot, wird auf der Backbordseite zu Wasser gelassen. Den verbliebenen Passagieren wird klar, dass es keine regulären Rettungsmittel mehr gibt. Trotzdem bleiben viele eigenartig gefasst, wie etwa der schwerreiche Besitzer des Waldorf-Astoria-Hotels in New York, John Jacob Astor IV. Nachdem er seiner schwangeren Frau in eines der letzten Boote gehofen hat, tritt er zurück und entzündet eine Zigarre. Da taucht der Bug komplett unter. "Plötzlich machte das Schiff eine ruckartige Bewegung nach vorne und eine Welle überrollte den Bug und riss viele Menschen mit", berichtet Commander Lightoller. " Wer irgend konnte, versuchte, ans Heck des Schiffes zu gelangen." So erlebt es auch der Lagermeister Frank Prentice. " Überall waren Menschen, schrien, weinten, liefen durcheinander. Ich hörte den Lärm im Schiffsinneren, wo Gegenstände herumpolterten und aus den Schränken fielen."
Nach dieser abrupten Gewichtsverlagerung kommt der Sinkvorgang für einige trügerische Minuten zum Stillstand. Diese Zeitspanne nutzt Frank Prentice und hastet nach achtern. In den Verzweifelten keimt die Hoffnung, dass sich die Titanic mit Hilfe ihrer noch trockenen Abteilungen im hinteren Teil des Rumpfes so lange über Wasser halten kann, bis Rettung eintrifft.
02:10 Uhr: Kapitän Edward Smith betritt die Funkkabine und entlässt die immer noch diensttuenden Funker. Das Wasser hat die Kommandobrücke erreicht. Der Legende nach stimmt die Bordkapelle ihr letztes Lied an, den Choral "Näher, mein Gott, zu Dir".
02:15-02:20 Uhr: Das riesige Gewicht des Achterschiffs mit den Maschinen, Generatoren, Schraubenwellen und der fast fünfhundert Tonnen schweren Niederdruckturbine hält das Heck zunächst noch halbwegs in der Waagerechten. Die dadurch freiwerdenden Biegekräfte verformen den Rumpf der Titanic wie eine Banane, das Knarzen und Ächzen des Metalls steigert sich zu einem kreischenden Creszendo. Der erste Schornstein knickt an der Basis ein und fällt nach vorne auf die Kommandobrücke. Im Schiffsbauch brechen weitere Schotts unter dem ungeheuren Wasserdruck und auch bisher noch trockene Innenräume werden geflutet. Der Neigungswinkel zum Bug hin nimmt dramatisch zu - 30,35, bis zu 45 Grad. Schließlich ragt auch das Heck 60 bis 70 Meter hoch aus dem Wasser. Dort kämpft Frank Prentice um sein Leben. "Ich klammerte mich an die Reeling. Zwei, drei Mann neben mir konnten sich nicht mehr festhalten."
Die Titanic bricht zwischen dem dritten und dem vierten Schornstein auseinander. Mit einem Schlag gehen auf dem bis dahin hell erleuchteten Schiff alle Lichter aus - ein krasser Gegensatz zur gleißenden Helligkeit, in die das Schiff vom Beginn der Katastrophe an getaucht war.
Innerhalb von Sekunden sackt der vollgelaufene vordere Schiffsteil nach unten weg. Auch das letzte Stück vom Kiel, das bei Hälften noch verbindet, bricht weg. Das Achterschiff fällt in eine fast waagerechte Position zurück, wohl in diesem Moment trifft Charles Lightoller eine Entscheidung: "Dann neigte sich das Heck wieder etwas mehr in die Horizontale und ich dachte mir: 'Zeit zu gehen' - und ließ mich fallen. Es schien ewig zu dauern, bevor ich im Wasser aufschlug."
Das vordere Schiffsteil geht schnell unter. Auch der Erste-Klasse-Passagier Archibald Gracie wird unter Wasser gezogen. "Zunächst hielt ich mich an der Reeling fest, ließ aber bald los. Ich wurde im Wasser herumgewirbelt." Angetrieben von Luftmangel und der Angst, im explosionsartig entweichenden Kesseldampf unter Wasser verbrüht zu werden, strebt er nach oben. " Ich schwamm mit ungeahnter Kraft und als ich es schließlich an die Wasseroberfläche geschafft hatte, befand ich mich schon ein gutes Stück vom Schiff entfernt."
Trotz der schweren Maschinen am unteren Ende verharrt das Heck noch kurz senkrecht im Wasser. Dann versinkt auch dieser Teil des Schiffs.
02:20 Uhr: Als die Titanic untergeht, schaut der vierte Offizier Herbert Pitman im Rettungsboot Nr. 5 auf seine Uhr und verkündet die genaue Uhrzeit. Den im Wasser treibenden Passagieren nützen weder ihre Schwimmwesten noch Wrackteile, an denen sie sich festklammern. Die meisten sterben an Unterkühlung und Entkräftung - und weil ihnen einige Besatzungen in den Rettungsbooten Hilfe verweigern. Das ist für den 17-jährigen Jack Thayer, der seine Erlebnisse zu einem Buch verarbeitet hat, eine der schlimmsten Erinnerungen: " Man hörte die Schreie für etwa 20 bis 30 Minuten. Sie wurden schwächer, als einer nach dem anderen der Kälte und der Anstrengung nicht mehr standhalten konnte." Eine der Überlebenden erinnert sich später an hitzige Diskussionen in einem der Boote. " Ich konnte nicht verstehen, wie sie sich von den so jämmerlich Schreienden abwenden konnten. (...) Ich sagte zu ihnen: 'Ihr habt eure Männer hier bei euch, aber mein Mann ist vielleicht einer der Rufenden.'"
04:00 Uhr: Die RMS Carpathia, ein englisches Passagierschiff der Cunard Linie, erreicht die Unglücksstelle. Von den mehr als 2200 Menschen an Bord überleben nur 711 die Katastrophe.