Tel Aviv:Hier und jetzt

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Schrill, leicht, diesseitig: Tel Aviv zieht Kreative und Kulturschaffende aus aller Welt an, ganz anders als das geschichtsträchtige, von Konflikten geschüttelte Jerusalem.

Von Winfried Schumacher

Ist das da Melania Trump auf dem Rothschild-Boulevard? Sie hat die Augen zu zwei dunkelgrauen Schlitzen geschminkt, die Haare säuberlich nach hinten gesteckt und trägt ein türkisfarbenes Kostümchen. Zwischen all den Supermännern, Teufeln und beschwipsten Krankenschwestern wäre sie fast nicht aufgefallen. Mit ihren hochhackigen Schuhen fällt es der Präsidentengattin sichtlich schwer, sich dem dumpfen Beat des Elektro-Sounds hinzugeben, der aus irgendeinem Lautsprecher dröhnt. Die Tel Aviver Melania ist in Wahrheit ein Mann und sogleich wieder in der tanzenden Menschenmenge verschwunden.

Wenn Israel im März Purim feiert, so etwas wie den jüdischen Karneval, wetteifern die Tel Aviver um die schrillsten Kostüme. Dann ziehen Horden von kunstbluttriefenden Zombies durch die Straßen, falsche Orthodoxe zupfen an ihren überlangen Schläfenlocken, spärlich bekleidete Sioux-Häuptlinge und schillernde Schmetterlinge tänzeln gemeinsam durch die Nacht. Mit Purim beginnt in Tel Aviv der Sommer. Dann trägt Israels Kulturmetropole und Ideenschmiede ihre Kreativität und Lebenslust auf die Straße.

Es tut sich immer was am Strand von Tel Aviv: Jüngst wurde ein Turm der Wasserwacht zum Pop-up-Hotel umfunktioniert. Dessen Fassade und Innenausstattung gestalteten Künstler - von denen gibt es reichlich in der Stadt. (Foto: Jack Guez/AFP)

"In Tel Aviv kann sich jeder selbst erfinden", sagt Lucas Chauvet in seinem Atelier nicht weit vom zentralen Geula-Strand, "die Stadt nimmt jeden, wie er ist." Von seiner Terrasse blickt er auf einen kleinen Streifen Mittelmeer, dort ballt sich am Freitagnachmittag das Leben. Mit seinen eigenwilligen Collagen und wilden Farbwelten ist der 33-Jährige nur einer von vielen, die für die Experimentierfreude der jungen Kunstszene der Stadt stehen. Chauvet wanderte vor neun Jahren von Argentinien nach Israel aus. "Ich wollte hier einfach etwas Neues anfangen", sagt er, "ohne meine Wurzeln zu kappen." In der Objektkunst Chauvets prallt die indigene Formensprache Lateinamerikas auf die grelle Gegenwart des Nahen Ostens. Pachamama, die Mutter Erde der Andenvölker, steht den Panzern der israelischen Armee gegenüber.

Israel ist wie eine Goldmine an neuen Ideen - und Tel Aviv sein kreatives Zentrum

Längst nicht nur in Kunstkreisen und der Partyszene von Berlin, Paris und New York hat sich Tel Avivs Ruf als experimentierfreudiges Pflaster und lebenshungrige Feiermetropole herumgesprochen. "Tel Aviv schleppt nicht Jahrtausende von Kriegen und religiösen Konflikten mit sich herum wie Jerusalem", sagt Chauvet, "die Menschen hier interessieren sich viel mehr für das Jetzt als für das Jenseits. Das prägt auch die Kultur." Tel Aviver Künstler, Autoren und Filmemacher sind bekannt für ihre ungekünstelte Bildsprache und schonungslose Direktheit. Mit Chuzpe und Selbstironie widmen sie sich dem komplizierten Leben in einem vom Krieg, Terror und politischen Grabenkämpfen geschundenen Land. Zwischen der Dizengoff Street und dem Rothschild-Boulevard stößt man überall auf die kreativen Adern der Metropole. Szeneläden und Modeboutiquen wechseln hier mit Straßencafés und Szenerestaurants, in denen junge Maler und Fotografen ihre Werke ausstellen. In manchen tüfteln Data-Experten und Designer gerade über ihren Macs an den ausgefallensten Ideen der Stadt.

Mehr als 600 innovative Kleinunternehmen soll es bereits in Tel Aviv geben. Als Start-up-Nation bezeichnet sich Israel daher gerne selbst. Und deren heimliche Hauptstadt ist nicht Jerusalem, sondern Tel Aviv. An das Ende des Rothschild-Boulevards grenzt der Stadtteil Neve Tzedek, wo bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine kleine jüdische Siedlung bestand. Eine Zeit lang lebte hier der Literatur-Nobelpreisträger Samuel Agnon. In einigen Gassen hat sich das kleinstädtische Flair der Jahrhundertwende bis heute erhalten. Aus verschwiegenen Innenhöfen wuchern Oleander und pinkfarbene Bougainvilleen. Künstler und Modedesigner haben das Viertel längst für sich entdeckt. Die Shabazi Street säumen nun Galerien und stylishe Cafés. Aus dem einst heruntergekommenen Vorort wurde langsam ein Nobelviertel, dessen Mietpreise nun kaum noch jemand zahlen kann. "Israel hat eine schweißtreibende Kultur", sagt die Schriftstellerin Yael Hedaya. Die Autorin veröffentlichte eine Reihe von Drehbüchern, Romanen und Erzählungen, die auch ins Englische und Deutsche übersetzt wurden. In einigen beschreibt sie die Schroffheit und zugleich Verletzlichkeit ihrer Tel Aviver Alltagshelden. "Das Land ist wie eine Goldmine voll neuer Ideen", sagt Hedaya. "Und Tel Aviv war immer sein innovatives Zentrum. Hier kann ein Zwanzigjähriger in eine Produktionsfirma stapfen und sagen: Ich hab da eine grandiose Idee. Manchmal hat er sogar Glück damit."

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

1909 wurde der Grundstein für Tel Aviv als erste hebräische Stadt der Neuzeit gelegt. In ihrer jungen Geschichte wurde sie zum Zufluchtsort für Hunderttausende. Sie flohen hierher vor Verfolgung und Rassenwahn in ihren Herkunftsländern. Und so mancher auch vor der religiösen Strenge in der eigenen Familie. In den Dreißigerjahren wuchs die junge Stadt schlagartig, als Tausende europäische Juden vor dem Terror der Nazis nach Palästina flohen. Unter den Flüchtlingen aus Europa waren auch einige Architekten aus Berlin und Dessau wie Erich Mendelsohn und Arieh Sharon.

Tel Aviv benötigte dringend Wohnraum für immer mehr Menschen und entwickelte sich schnell zum Labor der Bauhaus-Avantgarde. Mehr als 4000 Gebäude der klassischen Moderne sind bis heute in Tel Aviv erhalten. Im wilden Wechsel findet sich überall die trotzige Kantigkeit der Fassaden mit den beschwingten Linien der Balkonreihen. 2003 hat die Unesco das weltweit größte Bauhaus-Ensemble auf die Weltkulturerbe-Liste gesetzt. Doch noch immer bröckeln die Gebäude vor sich hin, und die schlichte Eleganz der vergilbten Fassaden wird längst von gläsernen Bürotürmen überragt.

Als altehrwürdiger Kontrast erhebt sich das vor Jahrtausenden gegründete Jaffa über das Mittelmeer. Verwinkelte Gässchen führen vom Hafen zu der alten Kirche hinauf, wo der Überlieferung nach der Apostel Petrus das Mädchen Tabitha wieder zum Leben erweckte. Am Strand unweit der Altstadtmauern grillen vor dem Wochenende arabische Großfamilien. Ein Sprachgewirr aus Hebräisch und Arabisch, Russisch, Spanisch, Französisch und Deutsch schwappt in sanften Wellen über den Sand. Einheimische, Expats und Touristen liegen hier Strandtuch an Strandtuch nebeneinander. Für Jahrhunderte war die Hafenstadt Jaffa ein bedeutendes arabisch geprägtes Handelszentrum, bis das neu gegründete Tel Aviv ihr den Rang ablief und es letztendlich schluckte.

In den Hummusläden und Wasserpfeifencafés Jaffas blubbert der Orient. Auf einer Mülltonne zanken zwei Straßenkatzen. Hinter grellen Graffiti säuselt die vertraute melancholische Stimme einer Londoner Sängerin: "We are the reckless. We are the wild youth. Chasing visions of our futures ... " Aus einem Autoradio antwortet libanesischer Pop. Vom Strand steigt Trommelwirbel auf, irgendwo hat ein DJ auf einer Dachterrasse Trance aufgelegt. Der dröhnende Bass übertönt den Muezzin. Die Partynacht kann beginnen.

© SZ vom 30.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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