Station 2: mit dem Fahrrad:Servicewüste im Nieselregen

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Wie weit kommt man in 24 Stunden? Jetzt im Herbst, wenn es kalt wird. In zentralbeheizten Büros gedeihen die Träume von Wärme, Licht und Meer. In den kommenden Wochen setzen sich unsere Mitarbeiter in den Zug, ins Auto und ins Flugzeug, machen sich auf nach Süden und berichten dann, wo sie nach einem Tag angekommen sind. Heute geht es mit dem Fahrrad Richtung Italien.

Alex Rühle

Manchmal kann einem die Begegnung mit einem einzigen Menschen den ganzen Tag verschönern. Als ich Freitagnachmittag schnell noch die Bremsen an meinem Rad reparieren lassen möchte, beugt sich der Fachverkäufer wie von ferne über den Lenker, spreizt die Hände weg und sagt: "Uuh, also mit dem Modell kenn ich mich überhaupt nicht aus. " Als ich sage, man müsse da nur was nachstellen, meint er, ihn plage außerdem Migräne, und es gebe einen Radladen ganz in der Nähe. Es hat was Erfrischendes, dass man in dieser gemütsberuhigten Stadt doch noch auf Leute treffen kann, die sich selbstbewusst exaltiert allen Grundregeln der Markwirtschaft widersetzen. Man stelle sich vor, die Kassiererin im "plus" schickte einen mit dem vollen Einkaufswagen einfach zum "minimal", sie sei gerade unpässlich.

Nebel über Innsbruck (Foto: Foto: Uni Innsbruck)

Mit dem Radl abheben

Fliegen. Fliegen durch Oberbayern, nur einen Meter über dem Boden und selbst der Motor sein. Das Rad rollt durch den letzten großen Sommertag, unter den Reifen prasseln die trockenen Blätter, die Lungen arbeiten ruhig wie ein großes Flügelpaar. Buchenhain, Baierbrunn, irgendwann flimmert die Isar kurz durch die Bäume, und nach eineinhalb Stunden bin ich ungefähr soweit wie zu Fuß in 24 Stunden.

Ein Tag Zeit und schönes Wetter. Vor den kommenden sechs Monaten Schneematsch und himmlischen Graustudien einmal noch den Brenner sehen. Das Fahrrad hat genau die richtige Reisegeschwindigkeit: Aus München bin ich in einer halben Stunde raus, zwei Uhr nachmittags am Tierpark Hellabrunn, auf dem Radweg alles voll mit Fußgängern, tschuldigung, ring ring, ich muss mal eben nach Italien.

Schöne Scheußlichkeiten

Der Brenner gilt ja immer als Schwelle zur Freiheit, aber ehrlich gesagt ist der Brenner eine der hässlichsten Schwellen, die sich denken lässt. Ein einziges Gebäude im Dauernieselregen, ansonsten alles betonversiegelt, an Negativambiente reicht der Brenner an einen Supermarktparkplatz im Ruhrgebiet heran. Früher stand ich nach dem Urlaub öfters dort oben und habe versucht, in den Münchner Herbst zurückzutrampen. Einmal, brennergemäß regnete es, kam meine Englischlehrerin vorbei, hat mir aus ihrem trockenen dicken Auto zugewunken und ist weiter gefahren. Eigentlich sollte man einen Ort, an dem einem derart menschenverachtende Dinge widerfahren können, auf Lebzeit meiden. Das Ganze ist allerdings 15 Jahre her, warum also sollte der Brenner nicht mal wieder eine Chance bekommen. Aber eins nach dem Anderen.

Die hässlichste Straße Bayerns führt durch Pullach. Diese Gemeinde könnte viel Geld damit verdienen, dass sie amerikanische Touristen in ihren Ort lotst, um ihnen eines der letzten baugeschichtliche Relikte des Kalten Krieges zu zeigen. Die Straße des BND - so muss es im Kopf von Gerhard Löwenthal ausgeschaut haben: drei Kilometer lang Waschbeton, Eisengitter und Deutschlandfahnen. Wer sich für das Casting von "Big Brother" vorbereiten möchte, der sollte hier einen Nachmittag auf und ab spazieren, permanent folgen einem Kameras, da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.

Traurige Weggefährten

Im Ortskern von Pullach sitzen dann alte Menschen in kleinen Grüppchen beisammen, wahrscheinlich das Jahrestreffen ehemaliger BND-Mitarbeiter, die sich daran erinnern, wie sie Chruschtschow in den Fünfziger Jahren Telefonstreiche gespielt haben. Und weißt du noch, wie wir dem Kennedy damals das "Amerikaner" durch den völlig sinnfreien "Berliner" ersetzt haben?

Es wird ruhiger, ab Buchenhain wandeln nur noch ein paar gutgelaunte ältere Damen durch den sonnigen Nachmittag, zart schwebt der süßliche Parfümduft meiner ehemaligen Klavierlehrerin durchs Isartal, die bei Schumann immer sagte: "Du musst das so traurig spielen, als sei dein Kater gestorben. " Von München bis an den Fuß der Brennerstraße säumen eine überfahrene Katze, zwei Vögel und ein Igel den Straßenrand.

Wie ich so in Richtung Alpenpanorama fliege, überholen mich plötzlich drei Radlerinnen. Frechheit. Die sollten sich ein Beispiel nehmen am Cover meiner Oberbayernkarte: ein adrett gekleidetes Paar radelt durch moderates Hügelland. Er hat am Lenker die Karte befestigt und erkundet Neuland vorneweg, sie, ein Tüchlein im Haar, fährt ordnungsgemäß eine halbe Radlänge hinter ihrem feschen Begleiter her. Zum Trost für diesen zweiten Platz darf sie aber in ihrem Radkorb einen riesigen Strauß Margeriten mitführen. Die drei Radlerinnen rauschen ohne Blumengebinde und Haarschmuck an mir vorbei.

Oberbayern weltweit ausgebucht

Von Münsing aus runter zum Starnberger See. Villen gibt es hier, die sieht man sonst nur in Vorabendserien, in denen Flugpiloten abends freudestrahlend nach Hause kommen, und ihre Gattinnen stehen weinend im Vorgarten und sagen: "Ludwig, etwas Furchtbares ist passiert!" Meistens ist dann die Tochter weg. An der Stelle, an der vor 114 Jahren König Ludwig verschwand, spielen ein paar Mädchen im knietiefen Wasser. Im Biergarten diskutieren vier Männer darüber, wie viele Galaxien ein Lichtjahr weg sei, während ich auf meiner Karte Entfernungen messe. Wie lange das Licht wohl bis zum Brenner bräuchte? Und ob es bei Regen wohl länger unterwegs wäre? Ein Schatten legt sich auf die Sonnenuhr, das gleißend fette Blau kippt plötzlich um in zitterndes Anthrazit: Der letzte große Sommertag ist gegen fünf vorüber. Kurz vor Garmisch wäre dann abends beinahe Schluss gewesen. Wegen der "weltweiten Touristen", wie sich eine Mitarbeiterin im Hotel Garni in Oberau stolz ausdrückte. Die weltweiten Besucher haben oberbayernweit alle Hotels in Beschlag genommen, nicht ein Bett ist frei. Wegen der oberammerikanischsten aller Passionsfestspiele, kurz "The Play". Ein Loblied sei deshalb gesungen auf die findige Rezeptionistin im "Landgasthof Forstau", die mir kurzerhand ein Klappbett in den Fitnessraum stellt. Zwischen fünf Hometrainern und einigen merkwürdigen Kippelgeräten, deren ordnungsgemäße Handhabung sich mir auch nach mehreren vorsichtigen Versuchen, sie in Gang zu setzen, entzieht, schlafe ich erschöpft und friedlich ein, nur das rote Herz an einem der Hometrainer blinkt noch Stunden durch die Nacht.

Bolivianische Passionen

Schön ist es, früh in den Sonntag zu starten, schöner noch, kurz damit abzuwarten: Nach all der Frischluft wache ich erst gegen acht auf, die ganze Passionsgemeinde sitzt bereits im Frühstückssaal. Zwei Rheinländer erzählen, dass auch sie nach Oberammergau wollen, glaubensmäßig sei das ja nicht so ihres, aber emotionsmäßig komme das alles subbé rüber und sei ein must.

Die Gegend hinter Mittenwald kommt emotionsmäßig auch sehr gut rüber: weit und breit keine Rheinländer hier, die Isar quirlt schaumweiß und gutgelaunt durch sanftes Grashügelland und Krüppelfichten, links und rechts stehen zusammenfallende Stadel und direkt dahinter wuchern hohe Berge in die Wolken. So ähnlich stelle ich es mir im Hochland von Bolivien vor, was wohl allen Bolivienkennern beweist, wie wenig ich mich doch in Südamerika auskenne.

Mit Schadenfreude den Berg hinunter

Den Zirlerberg würde ich als Radler nie runterfahren, weiß ja jeder, dass das verboten ist. Wenn ich trotzdem führe, dann würden mir alle zweihundert Meter kreisrunde Schilder mit einem Fahrrad drin zu erkennen geben, dass das streng verboten ist. Außerdem würden, während ich im eigenen Adrenalin in Richtung Innsbruck runter schwömme, ein Opelfahrer aus Dortmund, ein Münchner Ford und ein Innsbrucker Audi wütend hupen. Die Frau des Audifahrers würde auch noch, während sie gerade in eine Möhre beißt, eindrücklich unfreundliche Gesten zum geschlossenen Fenster hinaus machen. Gut, dass es eine Alternative gibt: Man kann am Bahnhof von Reith ein bis zwei Stunden auf den Zug warten. Schade nur, dass ich im Zug verpasse, wie der Audifahrer mit dem möhrenessenden Gespons kurz vorm Ende des Zirlerbergs mit rauchendem Motor und qualmendem Gemüt am Straßenrand steht, und ich ihm nun nicht zuwinken und für seinen weiteren Lebensweg alles, alles Gute wünschen kann. Dafür kann man aber im Zug einen ganzen Absatz lang komplizierte Irrealiskonstruktionen üben: Wann sagt man schon mal "schwömme".

Innsbruck, ich muß dich lassen...

Innsbruck ist emotionsmäßig eher mau. Zieht man die einschlägigen Reiseführer zu Rate, so ist zu erfahren, dass auch die Tiroler Hauptstadt ein must beziehungsweise eine "Perle der Spätgotik" ist. Das mag stimmen, lenkt aber von der Tatsache ab, dass Innsbruck in erster Linie eine Servicewüste und Perle der Unfreundlichkeit ist. Die Konditormeisterin, der ich gern in ihrer gut sortierten Bäckerei eine appetitlich aussehende Schaumrolle abgekauft hätte, ist derart unfreundlich zu den drei Italienerinnen vor mir, dass ich ihren Laden mit einem scharfen Boykott belege, mögen ihr und ihren Nachkommen bis ins sechste Glied die Schaumrollen verdorren. Am Bahnhof steht dann hinter mir ein junger Mann mit Ghettoblaster. Als ich an der Reihe bin, sagt der Schalterbeamte: "Sagen Sie Ihrem kroatischen Freund, er soll die Negerkiste ausmachen". Der Wohnviertelsprenger wurde von einer deutschen Firma gefertigt, sein Besitzer stammt aus Wien und die Musik von "Travis", es geht also alles mit rechten Dingen zu, aber der Beamte rüpelt auch nach Klärung dieser nationalen Fragen weiter durchs Kontor. Seltsam, wie einem die Begegnung mit einem einzigen Menschen den Tag verderben kann.

Gattin an Hauseck in Fujicolor

Die Altstadt von Innsbruck wurde von den Firmen Fuji und Canon Ende der Spätgotik zur Umsatzsteigerung ihrer Produkte mit einem schönen goldenen Dach versehen und wird heutzutage von April bis November an die Touristen vermietet. Die walzen gutgelaunt durch die Altstadt, finden jedes Hauseck marvellous und machen Fotos von ihren wohlgenährten Frauen. Gattin an Hauseck scheint das beliebteste Innsbrucker Fotomotiv zu sein.

Das Interessanteste an Innsbruck aber ist, dass dort ein Mineralwasser verkauft wird - "juvina, Mineralwasser vom Feinsten" - , das, wie das Etikett besagt, 36 700 Jahre alt ist. Sonst stochern die Geologen immer im erdgeschichtlichen Nebel herum und können nur auf fünf bis zehn Millionen Jahre genau sagen, wann welche Platte an welchen Kontinent gerumpelt ist. In Innsbruck weiß man, 34 700 vor Christus hat es in der Gegend geregnet. Es kommt einem kleinen Jubiläum gleich, dass es auf den Tag genau 36 700 Jahre und 14 Stunden später leise auf den Innsbrucker Bahnhof zu nieseln beginnt. Brenner ade, da soll dann jemand hin, der geschützt im warmen Zug sitzt.

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