Spanien:Madrids grüner Norden

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Die Sierra Norte grenzt an Spaniens Hauptstadt. Bis heute ist die bewaldete Bergregion unberührt, aber nur scheinbar rückständig. Genau das macht sie so interessant - für Einheimische wie für Touristen.

Von Brigitte Kramer

Martín Galíndez trägt eine Baskenmütze und eine schwarze, lange Kutte. Sein Gesicht ist rund, die Augen sind wach. Der Benediktinermönch lebt im Kloster Santa Maria de El Paular, auf 1200 Metern Höhe. Der Ort heißt Rascafría, benannt nach den Rocas frías, den "kalten Felsen" des Peñalara-Gipfels, der hinter dem Kloster in den blauen Himmel ragt, fast 2500 Meter hoch. Die Luft ist klar. Mönchsgeier und Steinadler ziehen über der Guadarrama-Kette ihre Kreise. Die Gipfel trennen Nord- von Südspanien. Martín Galíndez kennt die Umgebung gut. "Jeden Morgen nach der Laudes", erzählt er, gehe er zur Station des spanischen Wetterdienstes ein Stück die Berge hinauf und lese dort die Werte ab. "Im Winter haben wir hier Minusgrade", sagt er mit erhobenem Zeigefinger. Die Daten gibt er weiter, damit die Spanier später im Fernsehen erfahren, wie das Wetter hier oben ist. Rascafría ist nicht irgendein Ort. Rascafría ist in Spanien ein Begriff.

Früher hieß die Gegend "armes Gebirge". Hier fanden nur Ziegenhirten ein Auskommen

Nur eine Autostunde liegt er von Madrid entfernt, diesem Moloch mit mittlerweile 3,2 Millionen Einwohnern, kilometerlangen Staus und extrem verschmutzter Luft. 5200 Menschen leben pro Quadratkilometer in Madrid, Rascafría hat elf Einwohner pro Quadratkilometer. Das klingt nach halb verfallenen Dörfern, aus denen alle wegziehen, was zum Teil auch stimmt. Aber es gibt hier auch Bauern, Grundbesitzer, Unternehmer mit Ideen, Menschen wie Antonio Gonzalo, Jaime Alonso oder die Geschwister San Lázaro. Dank ihnen geht es der Gegend in der nördlichsten Ecke der Region Madrid wirtschaftlich relativ gut.

Früher hieß die Gegend Sierra Pobre, armes Gebirge. Arm waren die Böden und deshalb auch die Bewohner. Die Ziegenhirten, die hier vor allem lebten, sollen noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts Fellumhänge und Flechtschuhe getragen haben. Das brachte den Bergen den Ruf der Rückständigkeit ein, der bis heute mitschwingt, wenn man in der Hauptstadt vom Leben und der Natur des gut tausend Quadratkilometer großen Landkreises und seinen 42 Gemeinden erzählt. Eben diese vermeintliche Armut und Rückständigkeit machen heute aber auch den Charme der Gegend aus. Sie ist wie geschaffen für Nostalgiker und Naturfreaks, die in Madrid den Überlandbus nehmen und wenig später durch Buchenhaine und Eichenwälder schlendern, zwischen Wacholder und Farn wandern, an den Ufern des Lozoya und des Jarama radeln oder um Stauseen spazieren wollen; Menschen, die gerne scharf angebratenes Fleisch oder dicke Bohnensuppe essen und sich dazu ein Gemisch aus Rotwein und Gaseosa, süßem Sprudel, schmecken lassen. Hier können Besucher erahnen, wie es sich in Spanien vor dem EU-Beitritt 1986 lebte, als es fast nur einheimische Produkte gab. Sie werden Benediktinerbrüder mit Baskenmütze treffen. Sie werden an Tischen mit karierten Baumwolltischdecken essen,und zum Nachtisch keinen Danone-Joghurt im Plastikbecher, sondern Schafsdickmilch mit Honig im Tontöpfchen bekommen. Sie werden Männer in zerbeulten, alten Autos sehen, die schwarzen, spanischen Tabak rauchen. Sie werden Frauen hören, die sich stundenlang in guter Lautstärke unterhalten können und dabei Lebensfreude verbreiten. Sie werden seufzen und denken, ach, vor der Globalisierung war die Welt noch in Ordnung.

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(Foto: Sierra Norte Madrid)

Die Rinder in der Sierra Norte, einer Bergregion in der nördlichsten Ecke der Region Madrid, sind weiß und haben auffällig gebogene Hörner.

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(Foto: Sierra Norte Madrid)

Wer die Gegend bereist, spaziert durch Buchenhaine und Eichenwälder, vorbei an Wacholder und Farnen. Jetzt im Herbst sind die Bergketten besonders farbintensiv.

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(Foto: Sierra Norte Madrid)

Früher hieß die Region Sierra Pobre, armes Gebirge: Arm waren die Böden und deshalb auch die Bewohner. Heute geht es der Gegend (im Bild der Ort Prádena del Rincón) wirtschaftlich relativ gut.

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(Foto: Sierra Norte Madrid)

Dass die Sierra Norte ihre Ursprünglichkeit bis heute bewahren konnte, liegt vor allem daran, dass sie Madrids Trinkwasserspeicher ist.

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(Foto: Sierra Norte Madrid)

Mehr als die Hälfte ist Wasserschutzgebiet. Und zum Glück scheinen Städteplaner, Entwicklungspolitiker und Großkonzerne die Region immer übersehen zu haben.

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(Foto: Sierra Norte Madrid)

Die Sierra Norte ist wie geschaffen für Nostalgiker und Naturfreaks. Im Sommer fliehen die Madrilenen hierher vor Hitze und Smog.

Die Sierra Norte ist ein Phänomen. Warum fühlt man sich hier wie in einem alten Film? Warum sieht man keine Vorstadtsiedlungen, Gewerbeparks, Umgehungsringe, die üblichen Hässlichkeiten rund um Großstädte? Warum ist hier nichts zersiedelt und verbaut? Irgendwie scheinen alle Städteplaner, Entwicklungspolitiker und Großkonzerne den Standort nördlich der Hauptstadt immer übersehen zu haben. Dabei ist er sehr gut angebunden. Der internationale Flughafen von Madrid liegt eine Stunde weg, die Autobahn verläuft an der Landkreisgrenze, 400 Kilometer nach Norden, bis zur französischen Grenze.

Dass die Sierra Norte ihre Ursprünglichkeit bis heute bewahren konnte, liegt vor allem daran, dass sie Madrids Trinkwasserspeicher ist. Mehr als die Hälfte ist Wasserschutzgebiet. Die ganze Region, vor allem aber die durstige Hauptstadt versorgen die Berge im Norden mit Leitungswasser, das berühmt ist für seine Qualität. Antonio Gonzalo war früher Bauer. Heute betreibt er bei Gargantilla del Lozoya einen Campingplatz mit Baumhäusern und Bungalows im Wald, die an Hütten zur Naturbeobachtung erinnern, innen aber komfortabel und modern ausgestattet sind. Füchse, Wölfe, Wildschweine leben hier, und auch Feuersalamander und Bergmolche sollen durchs Dickicht kriechen. Antonio Gonzalo hat das Potenzial der Sierra Norte erkannt. Er hat einfach innegehalten und genau hingeschaut. "So viel Naturreichtum direkt neben einer Millionenstadt", sagt er mit Blick auf die Hänge und Täler rund um den Campingplatz, "das ist in Europa wohl einmalig." Vor allem im Sommer sind seine Unterkünfte ausgebucht. Dann fliehen die Madrilenen in die Berge. Hier sind sie sicher vor Hitze und Smog. Vor 80 Jahren war das komplett anders. Damals verlief in der Nähe des Campingplatzes eine Bürgerkriegsfront.

Auch Jaime Alonso hat genau hingeschaut. Er ist 28 und der jüngste Bauer in der Region Madrid. Er hat Biologie studiert, ist dann in den Viehzuchtbetrieb des Vaters eingestiegen und hat dazu drei Gästehäuser eingerichtet. Seine Arbeitsplätze sind das Dorf Garganta de los Montes und die Berge. Er züchtet Charolais-Kühe. Sie laufen frei herum und liefern bestes Fleisch. Jaime Alonso verkauft es mit Herkunftsbezeichnung an Restaurants. Von Mai bis Oktober weidet die Herde auf Hunderten Hektar Gemeindewiesen. Sie erstrecken sich über die Berghänge rund um das Örtchen. Wer den flauschigen, hellen Rindern beim Wandern begegnet, der habe trotz der bedrohlich wirkenden, nach vorne gerichteten Hörner nichts zu befürchten, versichert Jaime Alonso: "Sie sind gutmütig", sagt er, "von Natur aus. Und weil sie den ganzen Tag Bewegung haben."

Auch Noemí, Miriam und Antonio San Lázaro tun das, was ihre Familie seit Langem tut. Die Geschwister betreiben in Rascafría eine Schokoladenmanufaktur. Ihre Tafeln und Bonbons enthalten keine zusätzlichen Fette, keine Stärke, kein Ei, keine Geschmacksverstärker, Konservierungs- oder Farbstoffe. Es gibt sie in 40 Geschmacksrichtungen, mit karamellisierten oder gerösteten Nüssen, mit Honig, Salz, Kaffee, Minze. Das kleine Geschäft lockt vor allem Städter an, die einen Sonntagsausflug organisieren, um Schokoladenvorräte anzulegen - und dann vielleicht auch noch das Kloster von Bruder Martín besichtigen. Bis vor 30 Jahren verkaufte die Familie noch bis nach Deutschland, Frankreich und Belgien. "Rascafría war immer ein strategischer Punkt", sagte Antonio San Lázaro, "die Laster fuhren hier durch bis zur französischen Grenze."

In dem Gebirge sind schon Mauren, Franzosen, Republikaner in die Schlacht gezogen

Früher, als die Autobahn noch eine Landstraße war, war Rascafría ein geschäftiger Ort. Boten, Händler und selbst Könige, später Lkw-Fahrer und Fernreisende machten hier Rast. Pferde wurden gewechselt, Reifen aufgepumpt, Kaffees getrunken, bevor man den 1440 Meter hohen Pass von Somosierra ansteuerte und weiter über die kastilische Hochebene zog. Seit Ende der 1980er-Jahre führt ein Tunnel durch das Scheidegebirge; seitdem sausen die meisten an Rascafría einfach vorbei.

Die Bergkette hat schon oft Spaniens Geschichte beeinflusst. Zuerst waren es die Mauren, die vom Süden heraufzogen und über Jahrhunderte hier zurückgehalten wurden. Die dicken Mauern von Städtchen wie Buitrago de Lozoya zeugen davon. 1808 kam es am Pass von Somosierra zu blutigen Kämpfen mit Napoleons Truppen. Die Franzosen besiegten die Spanier schließlich und nahmen Madrid ein. Auch im 20. Jahrhundert war die Bergkette ein die Geschichte Spaniens prägender Ort. Kurz nach Ausbruch des Bürgerkrieges verteidigten hier im Sommer 1936 die Republikaner ihre Hauptstadt gegen Francos Putschisten. Die "Wasserfront" existierte drei Jahre. Heute hat man sie in drei Stunden abgewandert. Es gibt Führungen, man findet sich aber auch allein zurecht: Schießscharten und Bunker erinnern daran, dass sich hier Falangisten und Republikaner gegenseitig erschossen. Auch dabei ging es ums Wasser, wie Antonio Gonzalo weiß: "Wer die Stauseen hatte, hatte Madrid."

© SZ vom 05.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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