Schweiz:Heimatbeben

Lesezeit: 4 min

Vom Kommunikationsmittel der Kuhhirten zum Klangexperiment: Nirgendwo sonst stoßen die Schweizer so kräftig ins Alphorn wie im Wallis - dabei liegen die Ursprünge der musikalischen Tradition ganz woanders.

Von Ingrid Brunner

Das Alphorn, ein vordigitales Datingtool? Auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Doch Alexandre Jous ist nun mal kein Schweizer, sondern Franzose, mit einer großen Liebe für die Berge und das Alphorn. Und als solcher erläutert er, dass das Alphorn zehn, in seltenen Fällen wohl sogar bis zu zwanzig Kilometer weit zu hören ist. Wenn also damals sommers auf der Alpe den Kuhhirten die Einsamkeit plagte, griff dieser zum Alphorn, in der Hoffnung, irgendwo über Bergmatten und Täler hinweg, auf einer anderen Alpe eine junge Sennerin anzutönen. Mit etwas Glück, so lautet zumindest Jous' Theorie, kam dann eine Antwort zurück. Jous greift zum Alphorn, um zu demonstrieren, wie so ein Chat klingen könnte. Es hört sich ein wenig an wie ein tiefer, röhrender Juchzer. Die Antwort des Mädchens wäre dann ein etwas höherer, zierlicherer Juchzer. Und wenn alles gut lief, sagt er, gab's dann im Herbst ein Rendezvous.

Sogar aus China und Hawaii reisen Fans des Alphorns zum Festival in Nendaz

Das Alphorn, dieses imposante, um die dreieinhalb Meter lange Holzinstrument, verströmt Leichtigkeit, wenn Alexandre Jous es erklärt. Besucher aus Tschechien, China, sogar aus Hawaii lauschen ihm entzückt. Sein kleiner Einführungskurs endet mit einer Blasprobe. Man soll dabei wie ein Kind mit lockeren Lippen, aber doch kräftig prusten. Klingt leichter, als es ist, das Ergebnis hört sich kläglich an. Einzig eine junge Schweizerin bringt einen satten Ton zustande. Vielleicht begnügt man sich doch besser mit dem Zuhören. Klassische Musik hat der kleine schmächtige Jous studiert, mit Französisch Horn im Hauptfach. Der 33-Jährige ist Orchestermusiker. Und er ist ein Star in der Alphorn-Szene. Er war mit dem Alphorn schon in Paris im Théâtre du Chatelet zu Gast. Auch in Marokko tourte er mal, mit zwanzig anderen Alphornspielern hat er in den Rif-Bergen gespielt. "Die Leute haben uns noch in zwanzig Kilometern Entfernung gehört. Sie dachten, das Ende der Welt sei gekommen." Was für eine Aufregung, erzählt er und lacht.

Doch am liebsten spielt Jous in den Alpen. Er war 2008 der erste Ausländer, der beim Internationalen Alphornfestival in Nendaz im Schweizer Kanton Wallis Sieger in der Kategorie Solo wurde. Ein Jahr darauf gewann er als Solo-Champion, seither kommt er als Gast, spielt mal ein Ständchen, bietet Workshops an und gibt Alphorn-Unterricht. In Haute-Nendaz, einem Ortsteil der weit verstreut liegenden Gemeinde Nendaz, treffen sich jährlich Ende Juli Alphornspieler aus der Schweiz, Deutschland, den USA und Frankreich. Sogar 18 Japaner sind angereist, perfekt in Walliser Tracht gekleidet. Sie sprechen leider nur japanisch, lassen aber wissen, das Festival sei "die Möglichkeit, mit der Natur zu kommunizieren". Und sie sind hingerissen von den Bergen: "Wir hören ein Echo und fühlen uns verbunden mit dem, was um uns liegt."

Röhrende Juchzer: Einst dienten die Blasinstrumente zur Kommunikation zwischen Kuhhirten, heute experimentieren Musiker damit. (Foto: Pierre Albouy/Reuters)

Egal ob in Japan oder Europa: Das Alphorn ist schon eher der Exot unter der Instrumenten. Selbst im Ursprungsland Schweiz spielt es eine Nebenrolle im Musikleben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah es gar so aus, als würde dieses stolze Instrument, das schon die Berggermanen als Hirtenhorn verwendeten, verschwinden. Bei der Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbands am 8. Mai 1910 war nur ein einziger Alphornbläser anwesend.

Das Interesse an der "Cornua Alpina" steigt aber mittlerweile wieder. "Wir erleben eine kleine Renaissance", sagt Antoine Devènes. Sein Vater Aimé, ein leidenschaftlicher Musiker, war es, der vor 16 Jahren das Alphornfestival ins Leben rief und Nendaz zur "Hauptstadt des Alphorns" machte, wie der Sohn Antoine stolz sagt. Er und sein jüngerer Bruder wollen das Erbe des verstorbenen Vaters fortführen. Dabei liegt der Ursprung dieser Tradition gar nicht im Wallis, sondern in der deutschsprachigen Zentralschweiz. Aimé Devènes war das egal, er trommelte ein paar Leute zusammen und legte los. Heute spielen in der örtlichen Musikgruppe 16 Alphornbläser. Antoine Devènes schwitzt, ein Gewitter liegt in der Luft, und die Organisation des Festivals lastet auf seinen Schultern. Sein Lieblingslied? Da strahlt er: "La Rentrée des Vaches" - ein Lied zum Almabtrieb, eine schöne alte Melodie sei das, "sehr berührend".

Die Melodien vermag wohl nur ein geschultes Ohr so richtig zu unterscheiden. Weil das Alphorn weder Klappen noch Ventile hat, verfügt es lediglich über 16 Töne. Daher hören sich viele Lieder für den Laien recht ähnlich an. Deshalb beeindruckt zunächst die Wirkung, die dieses Instrument entfaltet. Wenn in Haute-Nendaz morgens um halb neun die Musiker für den Wettbewerb proben, dann sind die Schallwellen körperlich spürbar. Ein Beben kommt durch die offene Balkontür, durchdringt Wände, bis in den Hotel-Swimmingpool. Tiefe, eher wehmütige Töne hallen von den Betonmauern der Berghotels wider.

Das Beben wird auf der Dorfwiese intensiver, es kommt vom Sportplatz, vom Parkplatz, von der Ladenstraße. Auf der Festwiese stehen Buden. Auch der Alphornbauer François Morisod hat einen Stand errichtet. Man kann ihm bei der Arbeit über die Schulter schauen. Mit einem großen Kantmesser bearbeitet er einen schuhschachtelgroßen Holzblock. Er schnitzt daraus den Schallbecher, das vorderste Stück des Alphorns. Wichtig ist das Holz, sagt er. Er schwört auf die Rottanne. Ein hervorragendes Resonanzholz sei das. Es überrascht, wie leicht so ein Alphorn ist, man kann es sich locker über die Schulter legen. Außerdem besteht es aus vier Teilen und wird zerlegt transportiert. Das hat den Japanern und Amerikanern die Anreise sicher deutlich erleichtert.

Wer sich nun einen Tag lang derart auf das Phänomen Alphorn einstimmt, ist bereit für das große Finale am nächsten Morgen. Mit der Gondel geht es hinauf auf die Alpe Tracouet. Auf 2200 Metern liegt der Lac Noir. Vor dem Bergsee stehen nun 190 Alphörner ordentlich im Halbrund, dahinter je ein Musiker. Ein imposanter Anblick. Man ahnt, dass das mit einem leichten Beben nicht getan sein wird. Und schon erfasst die Zuschauer die mächtige Schallwelle, sie geht durch Mark und Bein und, ja, rührt die Seele des Zuhörers.

Myriam Petit aus Annecy hat dieses Jahr den Solo-Bewerb gewonnen. Jedes Jahr kommt sie nach Nendaz, so wie Alexandre Jous. Er sagt: "Ich spreche mit dem Alphorn, und die Berge antworten mir mit dem Echo. Das ist Glück."

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: