Reisereportage:Der Oligarch und die schwimmenden Bäume

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Der Reporter Jens Mühling reist um das Schwarze Meer und fördert vor allem in den sowjetischen Nachfolgestaaten erstaunliche Geschichten zutage.

Von Hans Gasser

Es gibt Geschichten, die kann man nur an wenigen Orten der Welt erleben. Besonders skurrile und oft schier unglaubliche passieren in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dort, wo in kurzer Zeit sehr viele Menschen arm wurden und sehr wenige extrem reich. Die sich daraus ergebenden Widersprüche und Verwerfungen interessieren den Berliner Reporter Jens Mühling, der im Uhrzeigersinn einmal um das Schwarze Meer gereist ist.

Eine der auch für ihn erstaunlichsten Geschichten spielt in Georgien: jene der übers Meer schwimmenden Baumriesen. Ein Taxifahrer aus der Hafenstadt Poti fährt einen Umweg mit den Worten, er müsse ihm zeigen, was der Oligarch Iwanischwili mit den Bäumen Megreliens anstelle. Sie kommen an ein Dorf, in dem gerade ein 30 Meter hoher Ahorn ausgegraben wird, samt Erde und Wurzelwerk in einer Art hausgroßem Holzblumentopf. "Der Hundesohn sammelt Bäume", sagt der Taxifahrer. Ein japanischer Wahrsager habe ihm das eingeredet, denn Iwanischwilis Söhne seien Albinos und bräuchten deshalb den Schatten hoher Bäume. "Wir wissen nicht, wie wir im Winter unser Brennholz bezahlen sollen, und er gibt Millionen aus, um Bäume zu verpflanzen."

Mühling kann dies kaum glauben, trifft aber Menschen, bei denen die Leute des Milliardärs ebenfalls waren, weil in ihrem Garten schöne alte Bäume standen. Einer ist völlig verzweifelt, weil die "Techniker" des Oligarchen den bereits per Handschlag besiegelten Geldregen zunichte machten: der Sattelschlepper passe einfach nicht zwischen die Häuser, auch das Angebot eines Abrisses kann sie nicht umstimmen. Und am Ende sieht Mühling tatsächlich, wie ein riesiger Eukalyptus auf einem Schiff die Schwarzmeerküste entlangtransportiert wird, um im Park der Villa Iwanischwilis zu verschwinden: "Ich hatte das deutliche Gefühl etwas zu sehen, was ich in diesem Leben kein zweites Mal sehen würde. Es war, als kehrten sich die Naturgesetze um: Der Baum war in Bewegung, die Menschen erstarrten."

Mühlings Buch ist voll von solchen Pointen, erschöpft sich aber nicht darin. Sein Leitmotiv ist die Verpflanzung im übertragenden Sinn, vor allem die gewaltsame Umsiedlung und Vertreibung von Bewohnern der Schwarzmeerküste. Sein historisches Wissen verknüpft er dabei gekonnt und sehr unterhaltsam mit den vielen Begegnungen, die er mit den in dieser Weltgegend durchaus kuriosen Volksgruppen macht. Er trifft Mescheten, die, je nach Sichtweise, türkische Georgier oder georgische Türken sind und von Stalin brutal umgesiedelt wurden; er spricht mit Lasen, den "Ostfriesen der Türkei", die die Jagd mit Falken perfektioniert haben. Auch pontische Griechen, Kosaken und Tataren erzählen Mühling die Schicksale ihrer Familien, die mal im Namen des Nationalismus, dann wieder in jenem des sowjetischen Imperialismus hin- und hergeschoben wurden wie Spielsteine auf einem Brett.

Seine Reise beginnt auf der Krim, die gerade frisch von den Russen besetzt ist. Die Russen, die er trifft, sagen alle das Gleiche: Die Krim sei immer russisch gewesen, es handle sich nicht um eine Eroberung, sondern um eine Heimholung. Natürlich ist das falsch, genauso wie die Behauptung der Ukrainer, sie seien die Ersten hier gewesen. Mühling zeigt daran exemplarisch die Müßigkeit der von den Volksgruppen immer wieder gestellten Frage, wer die älteren Rechte hat: Oleg, ein ansonsten netter Russe von der Krim, mit dem der Autor Schaschliks grillt und Wodka trinkt, sagt: "Alter russischer Boden. Die Regierung will hier keine Moscheen haben - hier sollen nur Glocken läuten." Mühling klärt den Leser auf: Der Boden hier sei Tataren-Erde gewesen, bevor die Zarin Katharina ihn zu Kosaken-Erde gemacht hat, weil sie diese aus der Ukraine vertrieben hatte. "Aber ich verkniff mir den Einwand."

Er trinkt mit einer georgischen Diebesbande und besucht ein russisches Pionierlager

Durch seine Russischkenntnisse ist Mühling sehr nahe an den Menschen dran, wird oft eingeladen und bekommt viel Interessantes erzählt. Das ist oft witzig, auch traurig und natürlich nicht immer wahr, veranschaulicht aber die Stimmung der Menschen in den Ländern am Schwarzen Meer. Sobald er in den Sendebereich des Propaganda-Fernsehens des Kremls kommt, der bis ins russisch kontrollierte Abchasien reicht, wird er stets mit denselben rassistischen Fragen gelöchert: Weshalb die Deutschen so dumm seien, so viele Schwarze und Muslime in ihr Land zu lassen, die ihre Frauen vergewaltigten und Kirchen schändeten. Mühling bleibt trotzdem immer gelassen und den meisten Menschen wohlwollend zugewandt. Er trinkt mit einer georgischen Diebesbande, besucht ein russisches Pionierlager, dessen Leiterin Liebeleien zwischen den Jugendlichen zulässt und ihm erklärt, wie das Lager im Gegensatz zur Sowjetzeit funktioniere: "Heute ohne Ideologie"; er fährt mit georgischen Fischern hinaus, die Sardinen fangen, und erklärt nebenbei, dass der Sardinenreichtum des Schwarzen Meeres der Grund war, weshalb die Griechen in der Antike seine Küsten kolonisiert haben. In Sotschi erfährt Mühling von einem Botaniker, dass das mediterrane Flair der Stadt eine Erfindung des 19. Jahrhunderts war, als die Palmen und anderen subtropischen Pflanzen erst eingeführt wurden. Ein russischer Meeresforscher berichtet ihm hingegen besorgt von der aus Asien eingeschleppten fleischfressenden Schnecke Rapana venosa, die sich rasend schnell vermehrt und andere Weichtiere dezimiert. "Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich beide Migrationsgeschichten auch mit unterschiedlichen Vorzeichen erzählen ließen. Mir schien, dass Menschen die Wanderung von Bäumen oder Schnecken in erster Linie nach ihrem Nutzen für sie selbst beurteilten."

Mühlings intensive Beobachtungen und die treffende Schlüsse daraus, sein scharfer Sinn für gute Geschichten machen dieses Reisebuch zu einem großen Gewinn. Denn solche Erlebnisse sind es, die den wahren Reisenden vom Urlauber unterscheiden.

© SZ vom 10.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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