Die ostfriesische Insel Spiekeroog hat bei Katharina Hagena Narben hinterlassen. Sie ist, schreibt die Autorin, längst "Teil meines Körpers geworden": Die Sonne hat in den vielen Sommern trotz Schutzfaktor fünfzig "eine Handvoll Muttermale in meine Haut gebrannt, einen kleinen rauen Fleck auf den Nasenrücken gestanzt, Linien von den Augenwinkeln in die Schläfen gezogen". Und dann ist da noch die Narbe am Fuß, sie stammt von einer Verletzung, als Katharina Hagena auf eine Eisenkante getreten war, die zum Wrack der Verona gehört.
Hagenas Buch "Mein Spiekeroog" ist ein subjektives Inselporträt. Eine Erinnerung an Kindheitssommer, an Winterwochen als junge Erwachsene und an neuerliche Sommer mit den eigenen Kindern. Die zweitöstlichste der ostfriesischen Inseln ist die einzige ohne Flugplatz, sie ist auch nicht über einen Damm mit dem Festland verbunden, deshalb autofrei, nur mit dem Schiff zu erreichen. Der Tourismus ist aus diesen Gründen nicht ganz so prägend wie auf den Nachbarinseln.
Aber so leer wie jetzt, wo die Inseln für Besucher gesperrt sind, ist Spiekeroog natürlich nie, auch in der Nebensaison nicht. Ihre Mutter, schreibt Hagena, die aus dem Norden stammte und jedoch mit der Familie im Badischen gelebt hat, habe von den Nordsee-Wochen das ganze Jahr über gezehrt. So mag es vielen Stammgästen ergehen, und jetzt, wo schwer abzusehen ist, ob es in diesem Jahr eine Sommersaison geben wird, ist Hagenas Buch nicht zuletzt ein Trost. Es unterstützt eigene Erinnerungen, ob sie nun tatsächlich mit Spiekeroog verbunden sind oder einem anderen Ort an oder in der Nordsee.
Angelesenes Wissen findet man kaum in dem Buch. Katharina Hagena erklärt, dass "Mein Spiekeroog" aus Treibgut bestehe, was man als Leser sofort einleuchtend findet. Die eigene Wahrnehmung, eigene Entdeckungen, dazu Geschichten, die Hagena erzählt bekommen hat über die Jahre von Bewohnern - das alles ist gewissermaßen angespült worden, bis es sich zu einer kleinen Inseln aufgetürmt hat, "ein schwarzes Buchstaben-Eiland im weißen Seitenmeer". Sich selbst unterstellt die Schriftstellerin Verschrobenheit, zweifelt immer wieder, dass andere genauso empfinden wie sie. Das ist eine angenehme Form der Bescheidenheit, der bewusste Verzicht, für sich ein Expertentum zu beanspruchen.
Aber natürlich weiß sie aus ihrer Perspektive viel Spannendes zu erzählen über das kleine Soziotop auf der Insel, die die Form einer Garnele hat; über das Aufeinanderprallen der Bewohner und den zumeist akademischen und beinahe ausschließlich inländischen Gästen. Über Opfer und Profiteure des Klimawandels - die Seesterne einer- und die Quallen andererseits. Jeder Weg auf Spiekeroog riecht anders, hat auch einen eigenen Soundtrack - Hagena beschreibt all das, knapp und anschaulich. Sie schildert verschiedene Erscheinungsformen von Sand. Die liebste ist ihr getrockneter Regenmatsch: eine Sandkruste, die bricht, wenn man darüber spaziert - "so als ginge man barfuß auf einer großen Crème brûlée". Im alten Hallenbad konnte man zwei Schwimmabzeichen machen, die es nur hier gab: den schwarzen und den goldenen Totenkopfschwimmer.
Das ist vorbei, die Zeit vergeht auch auf Spiekeroog, Dinge wandeln sich. Katharina Hagena ist nicht wehmütig, sie selbst verändert sich schließlich auch. Sie ist mit und auch an der Insel gereift. Nur wenn sie in diesem Jahr nicht nach Spiekeroog reisen könnte, würde ihr das wohl zusetzen. Angesichts der engen Verbundenheit, einem, ja: Heimatgefühl.
Katharina Hagena : Mein Spiekeroog. Mare Verlag, Hamburg 2020. 208 Seiten, 18 Euro.