Man sollte hier nicht stehen. Die Naturparkverwaltung sieht es nicht gern. Und würde der Wanderer, der auf dem Fischerweg der Rota Vicentina im gleichnamigen Naturpark unterwegs ist, einen Schritt weiter gehen, er kippte über den Klippenrand. In der Tiefe tobt das Meer, es schäumt und klatscht mit Getöse gegen dunkle Steinwände. Der markierte Weg, der Trilho dos Pescadores, führt so nah an diesen Klippenrand gar nicht heran. Aber zwischen Lackzistrosen, Wacholderbüschen und seltenen Hasenglöckchen verlaufen Trampelpfade. Es sind die Arbeitswege der Fischer. Und die nehmen die Besucher eben auch.
Im Brandungsbereich der Steilklippen der Costa Vicentina im Westen der Algarve liegt das Jagdrevier der Perceveiros. So heißen die Männer, die ihr Leben riskieren, um Entenmuscheln - Perceves - zu sammeln; Krustentiere, die zur Familie der Rankenfußkrebse gehören. "Du brauchst Mut, Mut und nochmals Mut", sagt ein Entenmuschelfischer bei Carrapateira, der an der Klippe den Wellengang beobachtet und gesteht: "Manchmal hab' ich geweint, weil ich dem Meer gegenüber so schwach bin." Die besten, fleischigsten Entenmuscheln wachsen an schwer zugänglichen Stellen, wo die Felskanten messerscharf sind.
Perceves kommen nur an südlichen Felsenküsten vor. Die wunderlichen Meeresfrüchte sind Zwitter. Deshalb siedeln sie in Kolonien nah beieinander. Der Fuß sondert einen zementartigen Stoff ab, der die Tierchen an den Felsen kittet. Am Kopfende befindet sich das muschelartige Mundwerkzeug, eine Art Schnabel. Im Wasser züngeln aus ihm faserige Fangarme, stets auf der Suche nach nahrhaftem Plankton. Ihre fingerdicken, etwa drei bis fünf Zentimeter langen Muskelstiele sind von einer schwarzen, ledrigen Haut umschlossen; dieser schmackhafte Muskel ist es, auf den Genießer es abgesehen haben.
Die Plätze, an denen die auf Entenmuscheln spezialisierten Fischer arbeiten, sind in drei Reviere eingeteilt: Vila do Bispo, Carrapateira und Aljezur. Die Fischerwege der Rota Vicentina bringen den Wanderer auch dorthin. Die Route von Vila do Bispo zum Leuchtturm des Cabo de São Vicente führt zu den eindrucksvollsten Stellen. Auf dem Rundweg Pontal da Carrapateira kann man die gleichnamige Felsgruppe und die Pedra da Galé aus der Ferne sehen. Im Bereich von Aljezur sind die Ponta da Atalaia und Arrifana die bevorzugten Orte der auch Marisqueiros genannten Fischer.
Man erkennt ihre Jagdgründe am verankerten Seil, das metertief abfällt und in den Klippenfalten verschwindet. In Neoprenanzug und Profilstiefeln seilen sie sich dort ab. Eine Hand am Strick, in der anderen das lange Stecheisen, die Arrilhada, mit dem sie die Perceves vom Felsen abkratzen, am Ledergurt ein Netz und ein langes Sicherheitsseil. Mit Glück kann man sehen, wie sie unten schwimmen oder über Felsbrocken springen, oder wie das Meer sie gegen die Steinmauern wirft und der Sog sie vom Land wieder wegreißt, als seien sie ein Spielball der Wellen.
Früher waren die Perceves ein Arme-Leute-Essen. Dann wurden sie schick
Noch in den 1980er-Jahren waren die Bewohner der Algarve Bauern und Fischer. Heute arbeiten die meisten hauptberuflich im Tourismus, sind Hotelkellner und gehen nur nebenher zu den Entenmuscheln. Wie João Francisco Ramos aus Vila do Bispo. "Seit ich denken kann, werden bei uns Perceves gegessen", sagt der 55-Jährige. Früher war das ein Arme-Leute-Essen. Dann wurde es schick. Sogar die Hauptstädter reisten seinetwegen aus Lissabon an. Als Junge half Ramos seinem Vater, den Fang von Algen oder Muscheln zu reinigen und an Restaurants zu verkaufen. An der traditionellen Art, Perceves zu ernten, habe sich kaum etwas geändert. "Nur die Ausrüstung ist heute besser", erklärt er. Sein Großvater sei noch halb nackt im eiskalten Atlantik geschwommen. In den 1950er-Jahren kaufte sein Vater abgelegte Polizei-Uniformen, dick gewebte Leinenbekleidung, die nicht so schnell nass wurde und besser vor den Felskanten schützte. "Taucheranzüge kamen erst vor etwa zwanzig Jahren auf", sagt er. Anfangs konnten nur wenige sie sich leisten. Heutzutage sind sie erschwinglich, sodass kein Marisqueiro mehr ohne Neoprenanzug ins Meer geht.
"Perceves sind Luxus", sagt Nicolau da Costa. Der Mann mit dem nachdenklichen Blick und dem strahlenden Lachen ist an der Costa Vicentina geboren, diesem 75 000 Hektar großen Naturpark, der von Sagres bis kurz vor Lissabon schroffe Felsen, Sandbuchten, Riffe, Lagunen und Dünen schützt. Er ist nicht nur Landschaftsarchitekt, sondern auch Entenmuschelfischer, einer von 80, die an der Costa Vicentina eine Lizenz besitzen. Der 40-Jährige ging mit sechs Jahren zum ersten Mal zu den Perceves. "Die Perceveiros waren für mich Helden", sagt er ernst. Inzwischen habe er die Welt gesehen, sei aber in die Heimat zurückgekehrt. Helden seien die Perceveiros für ihn geblieben.
Entenmuscheln gab es schon vor 500 Millionen Jahren. Heute aber sind viele Felsen kahl gestochen, der Bestand ist bedroht. Nicht nur weil die Entenmuscheln exzessiv geerntet würden, sagt Nicolau da Costa besorgt. Die Perceves litten zudem unter Umwelteinflüssen wie Klimaveränderung, Wasserverschmutzung durch Industrie und Landwirtschaft sowie den harten Winterstürmen. "Deshalb wurden die Fangmengen begrenzt", erklärt der Marisqueiro. Seit 2007 ist das Sammeln zwischen 15. September und 15. Dezember verboten. Bis zum 1. März darf eine Menge von zehn Kilo pro Tag geerntet werden, bis zum 15. September fünfzehn Kilo. Doch das sei kein ausreichender Schutz, stellt Nicolau da Costa bitter fest. Die erlaubte Fangmenge sei immer noch zu hoch.
Die Stürme des vergangenen Winters, bei denen erneut zahlreiche Bestände abgerissen wurden, haben die Lage verschärft. "Alle sprechen jetzt darüber, dass die Entenmuscheln immer weniger werden", sagt Nicolau da Costa. Allerdings hat die Diskussion eine Kehrseite: Immer mehr Gourmetköche wollen die Krebstiere jetzt auf ihrer Menükarte haben. Der Boom habe auch mit gutem Marketing zu tun, meint Nicolau da Costa. So hat sich Vila do Bispo vor drei Jahren zur Entenmuschel-Hauptstadt erklärt und veranstaltet seither im September das dreitägige Festival dos Perceves. Das locke auch viele Touristen an.
"Há perceves!" steht mit blauem Filzer auf einem Blatt Papier geschrieben, das in der Fensterscheibe des "Pesqueiro Novo" klebt. "Wir haben Entenmuscheln!" Die einfache Snackbar liegt am Hauptplatz von Vila do Bispo. Dona Paula holt eine gelbe Plastikschüssel aus dem Kühlschrank, randvoll mit Perceves. "Ganz frisch von heute", sagt sie. Ihr "Pesqueiro Novo" ist eine Stammkneipe der Perceveiros. Sie kann die besten auswählen, bevor sie auf dem Markt landen. Bei Dona Paula ist die 250-Gramm-Portion für 6,25 Euro erschwinglich. In guten Restaurants und in Spanien zahlt man für eine Portion locker 20 Euro. Bestellt man sie in Deutschland, kann das Kilo 150 Euro kosten. Der Preisunterschied zwischen Portugal und Spanien beruht darauf, dass die Perceveiros in Portugal 15 Euro pro Kilo bekommen, ihre galicischen Kollegen indes 60 Euro. Die Entenmuschelfischer der Costa Vicentina planen nun auch, die Preise zu erhöhen. Was teurer ist, wird weniger nachgefragt, so hoffen sie auch in der Naturparkverwaltung. Die galicischen Bestände hätten sich bereits leicht erholt, sagt da Costa.
Dona Paula stellt eine dampfende Portion auf den Tisch, zu der Portugiesen am liebsten nur Brot und ein Bier nehmen. In Salzwasser kochen - fertig. Ganz einfach zu essen sind die Tiere allerdings nicht. Man nimmt die Entenmuscheln in beide Hände, ritzt die Lederhaut unter dem Schnabel leicht ein und trennt den Muskelstrang in einer Drehbewegung von der Außenhaut. Hervor kommt das violett- bis hautfarbene, saftige Fleisch. Es schmeckt köstlich. Nach Krebs, Salz und nach wildem Meer.