Netzwelt:Zur Hühnerkirche

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Kirchen im Urwald und ein versunkener Ballsaal: Die Webseite Atlas Obscura führt zu kuriosen Reisezielen in der ganzen Welt. Sie liegen oft näher, als man denkt.

Von Karoline Meta Beisel

Aus der Business-Perspektive betrachtet, ist Atlas Obscura die dümmste Webseite der Welt. Eine, die ihre Leser vertreibt, indem sie ihnen ständig zuruft: Raus aus dem Internet, rein ins Abenteuer! Die Internetseite Atlas Obscura will eine Art National Geographic für das digitale Zeitalter sein. Dylan Thuras, der Gründer der Seite, sagt: "Man könnte meinen, im 21. Jahrhundert sei die ganze Welt erkundet, es gäbe nichts mehr zu entdecken. Aber das Gegenteil ist der Fall. Da draußen warten die unglaublichsten Sachen, direkt vor deiner Haustür."

Atlas Obscura sammelt diese unglaublichen Sachen und unbekannten Sehenswürdigkeiten. Interessant und besichtigenswert sind sie fast alle, auch wenn es nur die wenigstens davon in einen herkömmlichen Reiseführer schaffen würden und einiges doch ziemlich morbide ist. Zu sehen sind da zum Beispiel: die größte Teekanne der Welt in Chester, West Virginia; eine Kirche tief im indonesischen Regenwald, die wie ein Huhn aussieht; ein Museum der zurückeroberten öffentlichen Räume, mitten in New York City; eine Sammlung von Miniaturbüchern in Aserbaidschan; ein Ballsaal auf dem Grund eines Teichs in Surrey, England; die Gehirnsammlung der Universität von Michigan; das Grab von Miss Baker, eines der beiden ersten Affen, die lebend aus dem All zurückkamen (Besucher legen oft Bananen auf den Grabstein in Huntsville, Alabama); ein Friedhof für Eissorten der Marke Ben & Jerry's, die von der Firma nicht mehr herstellt werden.

Die Hinweise auf die Orte kommen überwiegend von den Lesern: Menschen, die gerne reisen, "aber eher nicht Bungee-Jumping machen", wie Dylan Thuras sagt. Seine Zulieferer nennt Thuras "Abenteuer-Nerds" - Leute in seinem Alter, Männer wie Frauen. Thuras ist heute 32 Jahre alt. Initiiert hatte er die Seite im Jahr 2009 gemeinsam mit Joshua Foer, dem Bruder des Autors Jonathan Safran Foer. Bevor die Orte auf der Webseite landen, prüfen Mitarbeiter von Atlas Obscura die Angaben und recherchieren gegebenenfalls hinterher. Veröffentlicht werden dann eine kurze Beschreibung zum Ort, Fotos und eine Markierung auf der Weltkarte. Mit der Suchfunktion kann man die Orte in Kategorien einteilen - von "Geisterstädte" über "Geologische Kuriositäten" und "gestohlene Leichen" bis zu "Ruinen", "Exzentrische Wohnhäuser" oder "Unterirdische Orte".

Alle Einträge sind außerdem auf einer Landkarte markiert, sodass man auch nachsehen kann, welche Entdeckungen andere in der eigenen Nachbarschaft schon gemacht haben. Die meisten Markierungen finden sich in den USA. Aber auch in Deutschland sind mittlerweile 294 Orte verzeichnet, zum Beispiel das Schnarch-Museum in Alfeld an der Leine, Niedersachsen, der angeblich älteste Rosenstrauch der Welt in Hildesheim oder die bei Urban Explorern und Hobbyfotografen beliebten ehemaligen Heilstätten in Beelitz bei Berlin.

Die Webseite ist längst im realen Leben angekommen: Ortsgruppen organisieren Ausflüge

"Die besten Entdeckungsreisen macht man nicht in fremden Ländern, sondern indem man die Welt mit neuen Augen betrachtet", sagt Dylan Thuras und zitiert damit den französischen Schriftsteller Marcel Proust. Aber wie genau macht man das? Man müsse sich häufiger erlauben, sich in seiner eigenen Stadt zu verlaufen, eine falsche Abzweigung zu nehmen oder ziellos herumzustromern. Das sei eine wunderbare Methode, die Umgebung noch einmal neu kennenzulernen, sagt Thuras. Die "Obscura Society" lädt aber auch zu geführten Expeditionen ein: Mit der Taschenlampe über den Friedhof oder in einer Tageswanderung zu einer verlassenen Goldmine in Kalifornien. In mehreren großen US-Städten gibt es bereits "Obscura-Ortsgruppen", die diese Ausflüge organisieren. Thuras hofft, dass noch viel mehr Ortsgruppen gegründet werden, das große Vorbild National Geographic stets im Hinterkopf: Deren Society wurde ja auch gegründet, um der Allgemeinheit die Wunder der Geografie näher zu bringen.

"Jeder kann auf seine eigene Art und Weise ein Entdecker sein", sagt Thuras. "Auch wenn es heute nicht mehr darum geht, irgendwo eine Fahne hineinzustecken oder der Erste auf dem höchsten Berg zu sein." Es reiche schon, einfach mal irgendwohin zu gehen, wo man im Alltag nicht hingehen würde, oder sich über die Geschichte eines interessanten Ortes in der Nachbarschaft schlauzumachen, sagt Thuras: "Das Gefühl, etwas zu entdecken, wird die Menschen immer faszinieren.

© SZ vom 08.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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