Mitten in Absurdistan:"Nur Deutsche sind so verrückt"

Am Strand von Tel Aviv gehen die Meinungen über Traumwetter weit auseinander. Im Dörfchen Seester wollen Recht und Gerechtigkeit gut erklärt sein und Londoner Mode-Events ähneln Autobahnraststätten - zumindest in einem Punkt.

SZ-Korrespondenten berichten Kurioses aus aller Welt

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(Foto: AFP)

Mitten in ... Tel Aviv Am Strand von Tel Aviv. Der Himmel ist stahlblau, die Sonne wärmt mild, Miniwellen locken ins glasklare Meer. Traumwetter, aber: Kein Mensch am Strand außer uns beiden. Es ist der letzte Tag im alten Jahr, also Dezember, und Dezember bedeutet für Israelis: Winter. 20 Grad sind es, und überall laufen Israelis in Ugg Boots und Daunenjacken herum. Eine sonnenbebrillte Frau führt ihren Irish Setter auf der Strandpromenade spazieren - und trägt sogar Handschuhe! Wir schwimmen im Meer, vielleicht zwanzig Minuten lang, und als wir zu unserer Handtuchinsel zurückkehren, steht vor uns ein Surfer, der sich in einen Neoprenanzug zwängt. "Kann es sein, dass ihr aus Deutschland kommt?", fragt er. Wie er das erraten hat? "Nur Deutsche sind so verrückt und baden bei solchen Temperaturen halbnackt im Meer." Thorsten Schmitz SZ vom 16. Januar 2015

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(Foto: Oliver Weber - Fotolia)

Mitten in ... München Dauernd sortieren sie alles um in meinem Lieblingssportladen. Da kennt sich doch keiner mehr aus. "Entschuldigung, wo finde ich denn Tourenschuhe?" Die junge Dame am Infostand schaut mich an, als sei ich ein Zeitreisender, der im späten 19. Jahrhundert aus Versehen in ein Wurmloch geraten ist und mitten in den Winterschlussverkauf 2015 geschleudert wurde. Aus ihren Augen spricht Mitleid. "Turnschuhe? Das sagt man heute nicht mehr." Es folgt ein kleiner dadaistischer Dialog. "Wieso? Tourenschuhe?" "Tut mir leid, Turnschuhe verkaufen wir nicht." "Doch. Die letzten habe ich auch bei Ihnen gekauft." "Turnschuhe ist zu ungenau. Es gibt Laufschuhe, Fitnessschuhe, Basketballschuhe, Tennisschuhe. . ." "Tour-ren-schu-he! Schuhe für Skitouren." "Ach so. Die sind jetzt im vierten Stock." Vielleicht sollte ich einen Anti-Nuschel-Kurs belegen. Titus Arnu SZ vom 16. Januar 2015

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(Foto: Imago)

Mitten in ... London Während Modewochen ist es denkbar schwer, überhaupt irgendwo reinzukommen. Türsteher und Platzanweiser verwalten die Gästelistenplätze der wichtigsten Schauen, Clubs und Restaurants peinlichst genau. Wer schließlich drin ist, ist meist dazu angehalten, dort zu sitzen, wo es der Veranstalter vorgesehen hat. In London, zur Fashion Week der Männer, stehen die Platzanweiser jetzt sogar schon vor den Toiletten. Während eines Events von Burberry im 5-Sterne-Hotel "The Connaught" bringt ein extra dafür abgestellter Mensch den notdürftigen Gast aber nicht nur zum Klo. Er wartet danach auch vorm Waschbecken, um ihm das Wasser anzustellen, die Flüssigseife zu dosieren und die Hände abzutrocknen. Natürlich will er Trinkgeld dafür - in einen kleinen Teller auf einer Anrichte. Wenigstens das ist noch so wie auf der Autobahnraststätte. Dennis Braatz SZ vom 16. Januar 2015

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(Foto: AP)

Mitten in ... Seester Im Kindergarten im Dörfchen Seester bei Elmshorn haben sie über Lehrer, Ärztinnen und Astronauten gesprochen. Jetzt möchte der Sechsjährige auch wissen, womit sein Vater Geld verdient. "Papa, was machst du eigentlich auf der Arbeit?", fragt er seinen Vater. Der ist Rechtsanwalt und verteidigt Menschen vor allem dann, wenn sie Ärger mit ihren Banken haben. Unlautere Kreditbedingungen sind seine Spezialität. Jetzt grübelt er, wie er das seinem Sohn verständlich machen könnte. Dann kommt ihm eine Idee: "Ich kämpfe für Recht und Gerechtigkeit", sagt er stolz. Als der Vater am nächsten Morgen zur Tür hinaus will, guckt sein Sohn sehr kritisch: "Wohin gehst du, Papa?", fragt er. Die Antwort kommt prompt: "Ich geh zur Arbeit. Du weißt ja: Ich kämpfe für Recht und Gerechtigkeit." Der Sohn: "Aber du hast ja gar kein Schwert dabei." Christina Berndt SZ vom 16. Januar 2015

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(Foto: Laura Hertreiter)

Mitten in ... Cù Chi Ein amerikanischer Tourist, nennen wir ihn Jack, spurtet durch den vietnamesischen Dschungel. Sportsonnenbrille, Sportschuhe, Strohhut. Der Rest der Reisegruppe versammelt sich um einen kleinen Tourguide. Der referiert über das Tunnelsystem unter seinen Füßen. Dort, auf 200 sehr engen, sehr heißen Kilometern hielten sich Partisanen, die Vietcong, im Vietnamkrieg versteckt. Es gab Küchen und Krankenhäuser, und überirdisch ein Netz an Fallen, um amerikanische Soldaten fernzuhalten. Plötzlich wird die Erzählung von vier lauten Schüssen zerrissen. Die Gruppe rückt zusammen. "Wird hier noch gekämpft?", flüstert eine Chinesin. Der Guide schüttelt den Kopf. Am Ende des Kriegsschauplatzes steht eine Schießanlage, wo Touristen für ein paar Euro auf einen Sandwall ballern können. Jack steht schon in der Schlange. Laura Hertreiter SZ vom 9. Januar 2015

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(Foto: Ed Jones/AFP)

Mitten in ... Venedig Der Venedig-Besucher hangelt sich durch die Menschenmengen und passt auf, dass er weder auf Tauben noch in die Auslage der Straßenverkäufer auf dem Boden tritt. Dort lagen lange die sogenannten Splat Back Balls, ein schwabbeliges Rund mit Tiergesicht, das - auf den Boden geworfen - zu Brei wird und sich langsam wieder zusammenzieht. Doch sie haben Konkurrenz bekommen vom Selfie-Stick, einer Armverlängerung, an die man das Handy klemmt, um aus gebotener Distanz ein Bild von sich und im besten Fall einem Stück Venedig machen zu können. Ein deutsches Ehepaar besieht die Stöcke. "Heiiiiner", sagt die ältere Frau, "was is'n das hier?" Heiiiiner sieht etwas hilflos aus: "Ich glaube, das ist eine Aufhebhilfe. Wenn einem was runtergefallen ist und man sich nicht bücken will." Die Frau wirkt zufrieden: "Die Italiener, die sind ja so faul." Julia Rothhaas SZ vom 9. Januar 2015

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(Foto: picture alliance / dpa)

Mitten in ... Hamburg In der Nacht ist die Landschaft der Großstadt schöner als am Tag, deshalb führt der Großstadtjogger ein Nachtleben. Der Verkehr schläft, die Luft ist besser, die meisten anderen Großstadtjogger sind längst zu Hause, und in den Lichtkegeln der Laternen kann man zusehen, wie der eigene Schatten wächst und schrumpft, wächst und schrumpft. Um 23 Uhr geht's also los, von Pöseldorf runter zum Hafen an die schwarzgoldene Elbe und wieder zurück. Ein Stündchen im Rhythmus der Schritte, wunderbar. Einziger Nachteil: Man fällt auf. "Warum hopsen Sie denn so um diese Uhrzeit?", fragt die Frau, die nach Mitternacht ihr Restaurant am Mittelweg zusperrt. "Ich komme gerade vom Joggen. Ich hopse nach, zum Ausschnaufen." Seltsam, scheint die Frau zu denken. "Dann hopsen Sie mal schön", sagt sie, "aber verletzen Sie sich nicht!" Thomas Hahn SZ vom 9. Januar 2015

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(Foto: imago/Sportfoto Rudel)

Mitten in ... Kapstadt Als ich mich mit beiden Händen an dem Felsvorsprung festhalten muss, um mit meinem rechten Fuß festen Tritt zu suchen, frage ich mich dann doch, was ich hier eigentlich mache. Es ist sonnig, einer der wenigen Tage in Kapstadt, an denen der Tafelberg keine Tischdecke hat - also nicht in Wolken gehüllt ist. Und weil nicht nur wir auf die originelle Idee kamen, gerade jetzt auf den berühmten Berg zu fahren, ist die Wartezeit vor der Seilbahn länger, als Nelson Mandela auf Robben Island saß. Was tun? "Lass uns auf den Lion's Head wandern", sagt mein Kumpel. Anderer Berg, gleiche Aussicht, weniger Menschen. Also gut. Von der Steilwand, dem Felsvorsprung und der Stelle, an der man 50 Meter abrutschen kann, ahnen wir noch nichts. In unserem Reiseführer stand: "Auf den Gipfel führt ein ambitionierter Wanderweg." Martin Schneider SZ vom 9. Januar 2015

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(Foto: Tobias Hase/dpa)

Mitten in ... München In der Tagesorga ist "Brot holen" der letzte Punkt auf der To-do-Liste. Also auf dem Heimweg vom Termin noch schnell beim Bäcker rein. Der Tag war jung und sportlich, jetzt stehen zwei Rentner vor mir in der Schlange und bremsen ihn aus. Das Just-in-time-Abendbrot gerät in Gefahr. Der ältere Herr kramt in aller Seelenruhe in seinem Geldbeutel. Die Schweden kommen mir in den Sinn, die jetzt schon Obdachlose mit Kartenlesegeräten ausstatten. Bargeldloses Zahlen, ein Traum an Effektivität. Da hebt der Rentner den Kopf und schiebt der Verkäuferin lächelnd den Geldbeutel rüber: "Machen Sie das mal. Das dauert bei uns Grufties ja immer so lange." Die alte Dame hinter ihm lacht und nickt zustimmend. Im Rausgehen dreht sich der alte Herr noch einmal für ein Statement um: "Lieber Grufti als Komposti!" Und schon bin ich dran. Lisa Rüffer SZ vom 2. Januar 2015

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(Foto: N/A)

Mitten in ... Berlin Performance-Abend im Kunstwerke-Museum vor einigen Tagen. Die Künstlerin Käthe Kruse betritt die Bühne, zusammen mit ihren Töchtern Edda und Klara. Alle drei schwarz gekleidet. Edda trommelt, Klara trägt einen Text vor - und Käthe Kruse liest im Stakkato von einer Endlosrolle Papier ab. Auf dem Papier hat sie sämtliche Kriege seit unserer Zeitrechnung aufgelistet. Käthe Kruses Stimme wird rau, nach 20 Minuten ist sie erst bei den Kriegen im 16. Jahrhundert. Eine Besucherin: "Wahnsinn, dass die Welt noch nie ein Jahr ohne Krieg erlebt hat." Ihr Begleiter: "Vielleicht verzichtet Merkel dieses Jahr mal auf ihre Neujahrsansprache und trägt stattdessen einfach nur die Kriegsliste vor." Diesmal ist es bekanntlich beim Wunsch geblieben. Aber vielleicht 2016? An weiteren Einträgen wird es der Liste jedenfalls nicht mangeln. Thorsten Schmitz SZ vom 2. Januar 2015

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(Foto: dpa)

Mitten in ... Schliersee Zu Zwecken winterlicher Familientreffen werden oft Grenzen überschritten. Auch zwischen Ländern, die einen recht unterschiedlichen Zugang zum Thema Winterreifen haben. Großbritannien und Oberbayern, in diesem Fall. Ein 34-Jähriger, der mit einem sommerbereiften Porsche Carrera von London nach Schliersee gereist ist, steht not amused auf dem dortigen Penny-Parkplatz. In 30 Zentimeter Schnee. "Ich bin sehr überrascht", sagt er, "dass sich das Auto gar nicht mehr bewegt." Es bewegt sich tatsächlich keinen Millimeter. Auch dann nicht, als der junge Mann beherzt Vollgas gibt, als die Familie hinten anschiebt. Schließlich helfen wir beim Winterreifen-Bestellen. Das dauert für dieses Auto: zwei Wochen. Immer noch besser, als bei einer cup of tea auf die undatierbare Schneeschmelze zu warten, raten wir ihm. Auch im Sinne der Familie. Birgit Lutz SZ vom 2. Januar 2015

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(Foto: REUTERS)

Mitten in ... Angkor Die Sonne sticht herab auf die Tempel von Angkor, die versunkene Welt, die der ganze Stolz Kambodschas ist. Die Silhouette von Angkor Wat prangt auf der Landesflagge; den Namen Angkor tupfen die Kambodschaner wie Goldstaub auf alles, was der Veredelung bedarf: Zigaretten und Bier, Hotels und Bars ("Angkor what?!"). Unter einem Baum hat ein lokaler Tourguide seine englische Gruppe für eine Einführung versammelt. Der Mann hat einen gewissen Mut zum Pathos mitgebracht. "Dieser Ort ist das größte Menschenwerk zu Ehren Gottes. Dieser Ort ist die Wiege der Zivilisation." Mit jedem Wort wird seine Stimme feierlicher: "Dies ist der Ort, an dem das Herz meines Volkes schlägt. Dies ist der Ort, an dem unsere Seele zu Hause ist." Dramatische Pause vor dem großen Finale. "Dies ist der Ort, an dem Angelina Jolie 'Tomb Raider' gedreht hat." Roman Deininger SZ vom 2. Januar 2015

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(Foto: Stephan Handel/SZ)

Mitten in ... Raisting Der Weg zum Weltruhm ist ein weiter; er hat die Band Stabil aus München heute nach Raisting geführt, Kulturlokal "Ibiza" im menschenleeren Gewerbegebiet. Die Stimmung der Musiker wird auch von der Speisekarte nicht gehoben, denn die ist vegetarisch - Sex & Drugs & Blumenkohl. Dann tauchen zehn junge Männer aus einer nahen Flüchtlingsunterkunft auf und bitten, keinen Eintritt bezahlen zu müssen. Die Band ist davon nicht begeistert, der Eintritt ist ihre Gage. Ist aber auch schon wurscht. Als das Konzert beginnt, sind die jungen Männer sofort auf der Tanzfläche und gehen nicht mehr runter. Nach zwei Stunden wird jeder Musiker von einem schweißnassen Neu-Fan herzlichst umarmt: Das sei ihr schönster Abend seit Langem gewesen. Der Weg zum Weltruhm ist weit. Aber manchmal ist's in Raisting auch nicht schlecht. Stephan Handel SZ vom 19. Dezember 2014

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(Foto: imago stock&people)

Mitten in ... Lüneburg "Fahrradunfall?", fragt der Tischnachbar im Café. "Ja, genau, Fahrradunfall." Blöde Geschichte, nicht der Rede wert, aber sie hat mir ein paar unübersehbare Wunden ins Gesicht gestempelt: eine größere am Kinn und eine kleinere an der Nasenspitze, die besonders doof aussieht. Fahrradunfall, tja. Schön wär's, wenn die Wunden woanders herkämen, zum Beispiel von einer heldenhaften Prügelei für jemanden in Not oder von irgendeiner kühnen Rettungsaktion. Aber nein: Fahrradunfall. Verletzt ohne Einwirkung des Gegners, würde man beim Fußball sagen. Bisschen in Gedanken gewesen, die Bordsteinkante übersehen. Patsch. Seither leuchten rot die Bremsspuren. Etwas seltsam ist es trotzdem, dass der Herr im Café sie sofort richtig eingeordnet hat. Er kann das erklären, kaputte Körper sind sein Fachgebiet: "Ich bin Gerichtsmediziner." Thomas Hahn SZ vom 19. Dezember 2014

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(Foto: imago stock&people)

Mitten in ... Abu Dhabi Nationalfeiertag in den Vereinigten Arabischen Emiraten: Autocorso und Fähnchenschwenken entlang der Strandpromenade von Abu Dhabi. Viele nutzen den arbeitsfreien Tag auch zu einem Besuch der Yas Mall. Das Einkaufszentrum an der Formel-1-Rennstrecke hat gerade erst eröffnet. Es ist 20 Mal so groß wie das größte Einkaufszentrum in Deutschland, das Centro in Oberhausen. Vieles in der Yas Mall ist "coming soon", die "Schneewelt" etwa. Geöffnet ist schon das 4-D-Kino im Moviecenter mit seinen 20 Sälen. Es läuft: "Die Pinguine aus Madagaskar". Wilde Verfolgungsjagden, 200 Zuschauer auf rüttelnden Stühlen. Der Leinwand-Orkan bläst aus kleinen Winddüsen in den Kopfstützen. Es gibt sogar Wassernebel. Der lässt sich abstellen, mit einer Taste auf der Armlehne. Doch wer drückt die, hier, mitten im Wüstenland? Niemand. Michael Kuntz SZ vom 19. Dezember 2014

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(Foto: dpa)

Mitten in ... München Zwei Tage vor seinem achten Geburtstag und neun Tage vor Heiligabend geht das Mädchen mit seiner Mutter durchs Münchner Universitätsklinikum Großhadern. Gelangweilt tapert es die endlosen Gänge in dem Raumschiff-artigen Riesenbau entlang. Immer neue Türen tun sich rechts und links auf. Hektische Ärzte. Wartende Patienten. Mitten im Gang steht ein Krankenbett, in dem eine gebrechliche alte Dame liegt. Zu den Abwechslungen während dieses Spaziergangs im tageslichtlosen Betongrau gehört es, die Schilder mit den langen Namen darauf zu lesen. Transplantationszentrum steht da, Nuklearmedizin, Patienteninformationsbüro. Plötzlich erhellt sich der Blick der Siebenjährigen: Mit so etwas Großartigem hatte sie an diesem wenig freundlichen Ort wirklich nicht gerechnet. "Ein Kinderwunschzentrum!", ruft sie begeistert. Christina Berndt SZ vom 19. Dezember 2014

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(Foto: REUTERS)

Mitten in ... Luhansk Im Hotel Druschba (Freundschaft) ist lange niemand mehr abgestiegen, seit Krieg herrscht zwischen der Luhansker Volksrepublik und Kiew. Außerdem hatte die ostukrainische Stadt zwei Monate lang weder Strom noch Licht, und ausländische Gäste kommen auch höchst selten, es sei denn, sie haben einen russischen Pass. Jetzt aber ist Besuch aus dem Westen da. Im leeren Speisesaal funkelt die Discokugel grüne Lichter an die Wand, ein alternder Sänger, der sich selbst am Laptop begleitet, trällert Schmusepop, die Kellnerin serviert russischen Borschtsch und russischen Hering. Um 23 Uhr ist Schluss, militärische Sperrstunde, wer jetzt noch auf der Straße erwischt wird, wird eingesperrt und muss tagelang gemeinnützige Arbeit leisten. Dann doch lieber das Hotelbett, Sowjetstyle: samt Etagenfrau und nicht abstellbarer Dauerheizung. Cathrin Kahlweit SZ vom 12. Dezember 2014

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(Foto: Ingo Wagner/dpa)

Mitten in ... Steinbach am Wald Sitzen ein fränkischer Brauer, ein fränkischer Bauer und zwei Wanderer aus Niedersachsen in einer fränkischen Wirtschaft. Sagt der Bauer: "Norddeutschland? Kenn i. Hobb i Connägschns." Der Brauer, der den Bauern lange kennt, hebt die Augenbrauen. Dochdoch, erklärt der Bauer und bestellt die dritte Runde Schnaps zum Bier. Er habe da immer seine Schwarzbunten gekauft, in Ostfriesland. "Warum?", fragt der Brauer. Das sei ja weit weg. Weil, sagt der Bauer, die Schwarzbunten mehr Milch gegeben hätten. Also früher. Später habe das Braunvieh dann aufgeholt, und deshalb kaufe er seine Rinder heute nur noch im Süden. Die Runde nickt, dann kommt der Schnaps. Der Brauer will ansetzen, da fällt ihm etwas ein. "Dann hosd doch gor ka Connägschns mehr", sagt er. "Fresse", sagt der Bauer. "Prost", sagt der Brauer. Schön hier. Marc Felix Serrao SZ vom 12. Dezember 2014

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(Foto: dpa)

Mitten in ... Berlin Vor vier Minuten hätte der rote Flieger nach München abheben sollen, aber noch steht er im Berliner Nieselregen. Innen erleben die Passagiere eine Lektion in Sachen Politikerstress. Gesine Schwan, Sozialdemokratin, rauscht durch die vollbesetzten Gänge, rotes Kostüm, hochgesteckte Gesine-Schwan-Locken. Sie setzt sich auf den letzten freien Platz, entschuldigt sich freundlich für die Verspätung, nach links, rechts, vorne und hinten. "Total mit Rita Süssmuth verquatscht." Der Flieger rollt los, Schwan schiebt eine randlose Brille auf ihre Nase, zieht einen Stapel Papier aus ihrer Handtasche, einen Stift, und beginnt, schnelle Notizen zu machen. Die Maschine hebt ab und rumpelt durch die graue Wolkendecke. Gesine Schwan blickt auf. Entsetzter Blick zum rechten Sitznachbarn: "Sagen Sie, wir fliegen schon nach München, oder?" Laura Hertreiter SZ vom 12. Dezember 2014

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(Foto: dpa)

Mitten in ... Paris Man hört sie um drei Ecken, wohlig wabert der Klang der Stimmen über den Gang der Metro-Station. Je näher man kommt, desto mehr Instrumente nimmt man wahr: Gitarre und Kontrabass, Akkordeon, Zymbal, Klarinette. Jeden Tag spielen die sieben Männer von Cabaret Slave im Pariser Untergrund auf, am liebsten in den weitläufigen Katakomben von Concorde oder Châtelet, den größten Umschlagplätzen. Sieben Mann brauchen viel Platz und sehr viele Mitmenschen, die ab und an eine Münze übrig haben. Nun stimmen sie "Kalinka" an, den russischen Gassenhauer. Wir bleiben stehen. Fjodor, der achte Mann, bietet eine CD an: "20 Euro für 20 Chansons, sehr billig." Radebrechend erklärt Fjodor, sie hätten früher viel mehr russische Weisen gespielt. "Nicht mehr! Denn wir sind aus Ukraine, Sie verstehen?" Oh ja. Wir verstehen. Christian Wernicke SZ vom 12. Dezember 2014

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(Foto: oh)

Mitten in ... Buenos Aires Man darf das nicht persönlich nehmen, es ist alles gut gemeint. Argentinier gehören zu den freundlichsten Menschen der Welt und sind in dieser Beziehung trotz gelegentlicher Finanzprobleme als Vorbild zu betrachten. Angesprochen wird man in der Regel als wahlweise "loco", das heißt Verrückter. Oder "flaco", Schmaler. Oder "boludo", Trottel. Manchmal ist das sogar zutreffend. Unser Sohn wiederum wird gewöhnlich "gordo" genannt, Dicker, obwohl er wie seine Mutter flaco ist. "Che, y el gordo?" Hey, was macht der Kleine? Oder: "Braucht der Dicke einen Kinderstuhl?", fragt die nette Bedienung. "Gordo" ist der Kosename für Kinder. Manchmal auch für Erwachsene, als "la gorda" gerne für Ehefrauen. Wir werden das vermissen im Norden. Denn bald verabschieden sich die dicken schmalen verrückten Trottel aus Buenos Aires. Peter Burghardt SZ vom 5. Dezember 2014

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(Foto: Imago Stock&People)

Mitten in ... München Den Freddy kenne ich noch aus der Schule, danach haben sich unsere Wege nie wirklich getrennt. Nur bewältigen wir sie mittlerweile sehr unterschiedlich: ich mit Schuhen, er ohne. Er geht barfuß auf Partys, spielt barfuß Trompete, hat barfuß geheiratet. Sommers radeln wir die gleiche Strecke zur Arbeit. Seit einigen, eigentlich sehr vielen Wochen aber nehme ich das Wetter als billige Entschuldigung, um mit dem Auto zu fahren. Natürlich fühle ich bei jedem Tritt aufs Gas CO₂-Schuld. So auch an diesem Morgen, an dem ich den Freddy in der Kälte strampeln sehe. "Wenn es jetzt noch kälter wird, kann ich dich mitnehmen", rufe ich ihm durchs geöffnete Autofenster zu. Er winkt ab: "Wenn es jetzt noch kälter wird, zieh ich mir halt Schuhe an." Niemand kann beschuhten Autofahrern ein so schlechtes Gewissen machen wie ein Barfußradler. Martin Wittmann SZ vom 5. Dezember 2014

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(Foto: AP)

Mitten in ... Moskau Der Weihnachtsmarkt müht sich redlich, etwas Wärme auf den Roten Platz zu bringen. Ist aber schwierig. Das Thermometer zeigt minus zwölf Grad, der Wind weht eisig, der Rubel fällt, das Visum läuft bald ab. Gegenüber von Eislaufbahn und Budenzauber: Stalins Grab. Tiefgefroren vor der Kremlmauer. Soll man nun am Weihnachtsmarkt einen Punsch trinken gehen? Oder runter, ins Lenin-Mausoleum? Neben Stalin jedenfalls ist's deutlich zu kalt. Zusammen mit ein paar alten Russen zwängt sich der Besucher durch die Einlasskontrolle. Ein erster Uniformierter mahnt zum Warten. Oh, wie kalt. Ein zweiter zieht ihm die Mütze vom Kopf. So kalt. Der dritte befiehlt ihm, die Hände aus der Jacke zu nehmen. Brrr. Dann: Lenin, einbalsamiert. Temperatur: Plus sieben Grad. Hier kann man sich aufwärmen. Eine echte Empfehlung: Lenin statt Punsch. Martin Zips SZ vom 5. Dezember 2014

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(Foto: Robert Haas)

Mitten in ... Berlin Elternabend. In Deutschland der Ort, an dem Detailfragen (Wann geht die Tigerenten-Gruppe raus, welcher Vater macht dieses Jahr den Weihnachtsmann?) stets in Grundsatzdiskussionen über Erziehung ausarten, die nicht unter vier Stunden dauern. Während man also wieder zu zwanzigst im Stuhlkreis auf Kinderhockern hin und her rutscht und hofft, dass man den Abend diesmal halbwegs schmerzlos übersteht, kommt in der kleinen Kindertagesstätte in Berlin-Charlottenburg eine Französisch sprechende Mutter an. Sie stellt zwei Flaschen Rotwein zwischen die Teller mit den Biokeksen und erläutert die Herkunft von einem Weingut in Languedoc-Roussillon. Dann öffnet sie die beiden Flaschen und sagt: "Eine ist für euch, eine für mich." Französische Mütter haben den deutschen einfach in so vielen Dingen etwas voraus. Verena Mayer SZ vom 5. Dezember 2014

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