Mit dem Postschiff bis zur Barentsee:Die unbezähmbare Nordlust

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Wenn sich Kunstlichtmenschen nach natürlichen Lichtern sehnen: An Bord der Polarlys entlang der norwegischen Küste zu reisen heißt, ständig dem Nordlicht hinterherzujagen.

Martin Zips

Wer Licht haben will, in Kabine 617, der braucht ein Plastikkärtchen. Am besten, man nimmt dieses graue Plastikkärtchen, mit dem man gerade die Kabinentür geöffnet hat. Man steckt es, erfahrene Schiffsreisende werden das wissen, in den "Light"-Schlitz an der Wand. Von diesem Moment an funktionieren auch die Lichtschalter.

"Auf der Jagd nach dem Licht" heißt das Motto der Fahrt mit dem Postschiff der Hurtigruten ("Die schnelle Linie") an der norwegischen Küste entlang. Von Bodø, das schon jenseits des Polarkreises liegt, über die Lofoten, die Finnmark, das Nordkap nach Kirkenes in der Barentssee, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Wenn man Glück hat und sich nicht gerade in seiner hell erleuchteten Acht-Quadratmeter-Kabine befindet, kann man das Nordlicht sehen: eine fahle Laune der Natur, welche dem kunstlichtfreudigen Mitteleuropäer nicht sehr vertraut ist.

Ob es wirklich etwas derart Magisches hat, wie einem der britische Autor Philip Pullman in seinem Buch "Northern Lights" weismachen möchte? Ob man, nachdem man das Nordlicht gesehen hat, sein Leben komplett umkrempeln wird? So wie der in Schottland ganz auf sich gestellte Yuppie McIntyre im Film "Local Hero"?

Was für ein merkwürdiger Landstrich das ist, wo die Sonne Ende November gleich ganz verschwindet, um Ende Januar wieder zurückzukehren. Dann gibt es für die Kinder sogar schulfrei. Im Sommer schließlich wird die Sonne auch in der Nacht noch leuchten.

Zu einer Zeit, in der die Welt weder "Light"-Schlitze noch Plastikkärtchen kannte, muss die ständige Dunkelheit den Menschen nördlich des Polarkreises ziemlich zugesetzt haben. Sie erzählten sich von Ragnarøk, vom Ende der Welt, das droht, sollte die Sonne niemals wiederkehren. Sie wähnten sich auf einer Scheibe, umgeben von der Welt der Götter und der Welt der Trolle - den Herren des Lichts und den Geistern der Finsternis. Gelegentlich wurden sie von rätselhaften Erscheinungen am Himmel aufgeschreckt. Mal leuchteten die Polarlichter über ihnen grün, dann rot, dann blau. Mal waren sie winzig, dann wurden sie riesig und hell.

Heute haben die Nachfahren der Wikinger die Dunkelheit ausgesperrt. Vor ihre Haustür. In die Kälte. Während der wochenlangen Dunkelheit quillt jeder Raum, jedes Haus über vor Kunstlicht - in jedem Fenster hängt eine Lampe. Und während ganz Europa über Energiesparlampen diskutiert, scheint es Norwegen vollkommen wurscht zu sein, was da leuchtet. Hauptsache, es leuchtet. In einem Land, in dem sich überall Windräder finden, Erdöl und Wasserkraftanlagen, dort herrscht an Strom kein Mangel.

Schweigend in die Nacht starren

An Bord der MS Polarlys ist eine merkwürdige Zweiteilung zu beobachten. Unten, auf Deck 4, sind es die einheimischen Passagiere, die auf den nächsten Hafen warten. In der hellen Cafeteria versorgen sie sich mit Getränken und Snacks. Rund um die Uhr brennt hier das Licht. Viele junge Leute haben ihren Laptop vor sich aufgeklappt. Auf seinem hellen Display sehen sie sich Filme an. Während hier unten eine Sehnsucht nach künstlichem Licht spürbar ist, herrscht drei Decks weiter oben totale Finsternis.

Deck 7 ist der bevorzugte Bereich der vergleichsweise sonnenverwöhnten wie kunstlichtgeschädigten Touristen aus Deutschland, England und Frankreich. Im sogenannten Panoramaraum, von dem aus man tagsüber die schneebedeckten Berge der Arktis vorbeiziehen sieht, haben sich zu später Stunde viele Passagiere versammelt, um schweigend in die Nacht zu starren. Wie in einem Kinosaal sitzen alle da - nur das grüne Licht der Notausgänge sticht aus dem Schwarz heraus.

Da und dort ist von Deck 7 aus das Leuchtfeuer eines Hafens zu sehen. Mal blinkt ein Licht, mal dreht es sich, mal steht es still. Grün, das ist Steuerbord. Rot, das ist Backbord. Gelbe blinkende Lichter, das sind die Schneepflüge, die die wüsten Schneeverwehungen an Land beseitigen. Die Kinder in den Dörfern tragen eine Art Grubenlampe am Kopf. Damit leuchten sie von kleinen Holzschlitten, auf denen sie entweder stehend oder sitzend nach Hause gleiten. All das kann man beobachten, im mephistophelisch finsteren Panoramaraum auf Deck 7. Und man kann dabei sogar ein (unglaublich teures, aber durchaus erleuchtendes) Bier trinken und die ruhige Nacht genießen. Und wo ist das Nordlicht?

Krack, macht der Lautsprecher. "Meine Damen und Herren, gleich passieren wir eine spektakuläre Felsformation. Wir werden sie mit einem Spot vom Schiff aus beleuchten. In zehn Minuten treffen wir uns am Außendeck. Bitte ziehen Sie sich warm an." In Sekunden leert sich der Panoramaraum. Die Schiffsreisenden strömen in ihre Kabinen, stecken ihr Plastikkärtchen in den Schlitz an der Wand, um ihre Thermohosen aus dem Rollkoffer zu fischen. Um Wollmütze und Handschuhe zu finden.

Am Außendeck versuchen sie in dem, was da vom Schiff-Scheinwerfer angestrahlt wird, wie angekündigt, eine Art Kirche zu entdecken. Schwierig. Dann taucht in der Dunkelheit ein dunkles Schlauchboot mit drei Männern in orangenfarbenen Gummianzügen auf. Auch das Schlauchboot besitzt ein Spotlicht, das sich wie ein Laserschwert auf die MS Polarlys richtet. In Sekunden rast das Motorboot auf das Schiff zu. Sind das Terroristen? Oder Greenpeace-Aktivisten? Sind die verrückt geworden? Wieso schweigt der Lautsprecher? Hilfe. Hilfe!

Königskrabbe auf dem Kopf

Die drei Gummimänner entern das Schiff - dann folgt eine Durchsage: "Meine Damen und Herren. Wir haben gerade Besuch von ein paar Fischern bekommen. Sie bringen frische Königskrabben mit!" Ach so. Plötzlich stehen die Fischer an Deck und drücken den Anwesenden ihren Fang in die Hand. Königskrabben sind riesig - und sehr, sehr hässlich. Ihre rote, harte Schale ist stachlig, ihre Beine sind fast einen Meter lang. In der dunklen Barentssee wurden die bis zu zehn Kilogramm schweren Tiere unter Stalin und Chruschtschow einst ausgesetzt, um die Arbeiter in Murmansk mit Essbarem zu versorgen.

Nun scheint die sozialistische Königskrabbenpopulation außer Kontrolle geraten zu sein. Die Viecher fressen anderen Meerestieren angeblich alles weg. Doch unter den Touristen am Außendeck des Küstenschiffes sorgt das Souvenir aus der Sowjetunion für größte Erheiterung. Manche lassen sich sogar mit einer Königskrabbe auf dem Kopf fotografieren. So viel Spaß hatte der Schiffsreisende zuletzt nur bei Landausflug 5b, der Fahrt mit dem Husky-Schlitten.

Im Gedrängel vor dem Meeresfrüchte-Büffet werden später im Speisesaal die vom Küchenpersonal fachmännisch vorgeknackten Krabbenbeine üppig auf dem Teller gestapelt. Das weiße Fleisch fühlt sich im Mund trocken und faserig an. Vor dem Schlafengehen blickt der Passagier dann noch einmal vom Panoramaraum aus in die Dunkelheit. Hatte nicht schon Parmenides den Weg zur Erkenntnis mit dem Überwechseln von der Finsternis zum Licht verglichen? Hatte Parmenides eine Thermohose?

Hammerfest heißt der erste Hafen am Morgen des nächsten Tages. Kein Wald wächst mehr in dieser Gegend. Alles nur Fels, Schnee und Ölgestank. Feuer brennt auf den Schornsteinen der Erdgasanlage. Bei ihrem Abzug 1944 hatte die deutsche Wehrmacht hier jedes Haus angesteckt, jede Halle, jede Fabrik niedergebrannt. Hatte das helle Licht des Feuers zuvor für die Menschen in dieser unwirklichen Gegend noch Wärme und Leben bedeutet, so stand es nun für Leid und Zerstörung.

In dem Städtchen Honningsvåg, an der Küste der Insel Magerøya, verschonten die Deutschen allein die Kirche. Als die ersten Einheimischen nach dem Nazi-Inferno wieder nach Honningsvåg zurückkehrten, da übernachteten sie zwischen den Kirchenbänken. Und ein Bäcker eröffnete in der Sakristei eine Bäckerei.

Heute legen in Honningsvåg täglich Hurtigruten-Schiffe an. Sie spucken jährlich 200.000 Touristen - unter ihnen vor allem Deutsche - aus, die mit einem der bereitgestellten Busse hinauf zum Nordkap fahren. Was ja einigermaßen absurd ist, denn am Nordkap ist meistens nichts zu sehen: Neben der Dunkelheit ist hier, am Tor zum Nordpol, der Nebel ein zentrales Thema.

Mal Angst, mal Euphorie

Zum anderen ist das Nordkap bekanntlich alles andere als das nördliche Ende Europas. Nimmt man das europäische Festland als Maßstab, so ist nicht das auf einer Insel liegende Nordkap, sondern die Landzunge Nordkinn der nördlichste Punkt. Definiert man das Ende Europas inklusive all seiner Inseln, so wäre das zu Norwegen gehörende Spitzbergen das nördliche Ende. Ja, sogar eine Landzunge unmittelbar neben dem Nordkap ragt noch 1,5 Kilometer weiter ins Meer heraus als dieser Fels.

Doch weil vor gut 450 Jahren der Seefahrer Richard Chancellor ausgerechnet diesen Punkt zum Nordkap erklärte, ist und bleibt er ein Mythos. Seit 130 Jahren werden organisierte Touren hierhin angeboten. Heute findet sich dort ein riesiges Touristenzentrum mit Kino, Restaurant, Souvenirsupermarkt, Galerie, Museum, Kapelle und Wickelraum.

Königskrabben, Nazis, Wickelräume - war es nicht das Nordlicht, das man hier suchte? Eine Himmelserscheinung, welche die Menschen früher mal in Angst, mal in Euphorie versetzte. Man darf nie in das Nordlicht blicken, sagten die einen. Dort wohnen böse Geister. Man muss dem Licht zuwinken, sagten die anderen, um die Götter milde zu stimmen. Heute weiß man: Sonnenplasma trifft Erdmagnetismus, da wird die Energie Zehntausender Atombomben frei. Alles total erklärbar also. Nur, ob man nun winken oder wegschauen soll - das weiß man immer noch nicht.

Wieder haben an diesem Abend Touristen aus Mittel- und Südeuropa im Panoramaraum auf Deck 7 Platz genommen, um gemeinsam die Dunkelheit zu genießen. Gespannt warten alle auf das Knacken des Lautsprechers.

Es knackt.

"Meine Damen und Herren. Auf der Backbord-Seite unseres Schiffes sehen sie: das Nordlicht." Wieder stürzt alles in die Kabinen, um sich Mäntel und Mützen überzuwerfen. Hinaus, hinaus in die klare Nacht.

Endlich stehen sie am Außendeck. Wie sich die Kunstlichtmenschen doch nach natürlichen Lichtern sehnen. Denn sie suchen das Echte, das Unverfälschte. Da: Ein Nordlicht! Und da: Noch eins! Hektisch zücken die Menschen ihre Digitalkameras. Sie blitzen. Sie blitzen in die Nacht. Und wundern sich anschließend, dass sie nichts auf ihrem Display sehen. Außer Dunkelheit vielleicht.

© SZ vom 27.03.2008/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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