Licht und Schatten in Las Vegas:In der Rauschzone

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Die meistbesuchteste Stadt der Welt hat sich schon viele neue Images zugelegt, jetzt will sie ihren alten verruchten Ruf als Spielerhölle zurück. Um mehr reiche junge Männer nach Las Vegas zu locken.

Von Stefan Nink

"Ich will Verlierer!", ruft er laut und schaut seinem Satz hinterher. Für ein, zwei Sekunden scheinen die drei Worte in der Luft zu hängen, zwischen den erschrockenen Gesichtern der anderen Gäste, dann sind sie verschwunden.

Willkommen in Las Vegas - der Stadt der Casinos, Hotels und Frauen! (Foto: Foto: Travel Nevada)

Steve Cyr beißt in seinen Shrimp-Taco. Mit vollen Backen sieht er Tom Hanks noch ähnlicher, aber das sagt man ihm besser nicht. Mr. Hanks hat nämlich abgelehnt, als Mr. Cyr aufzutreten.

Er hätte ihn gerne gehabt, diesen Hanks, in der Verfilmung seines Lebens. Hat nicht geklappt. Dabei wäre das eine Traumrolle gewesen. Steve Cyr ist schließlich eine jener grauen Eminenzen, die die Fäden hinter den Kulissen von Las Vegas ziehen.

Als Chef-Host des "Hard Rock Casinos" lockt er Spieler an die Tische und versucht, sie so lange wie möglich dort zu behalten. Damit sie so viel Geld wie möglich einsetzen. Und idealerweise schließlich verlieren.

Denn bei den Einsätzen, um die Steve Cyr sich kümmert, handelt es sich nicht um Peanuts: Der Mann betreut Kunden, die bei ihren Besuchen jeweils zwischen einer und fünf Millionen Dollar riskieren.

Kein Streichelzoo mehr

Einer wie Steve Cyr ist das Greifbarste, was man von der ansonsten anonymen Macht der Geldmaschine Vegas zu Gesicht bekommt. Einer wie Cyr ist Vegas, und Vegas ist einer wie Cyr. Beide wollen Verlierer. Gewinnen tun sie lieber selbst.

Und Las Vegas: Das ist seit 17 Jahren die am schnellsten wachsende Stadt der USA. Weder die Rezession hat ihren Boom bremsen können noch zwei Irak-Kriege, das Platzen der Börsenblase nicht und auch nicht der 11. September.

In Zeiten tiefer touristischer Unentschlossenheit glänzt Las Vegas nach wie vor als strahlendes Erfolgsmodell. 35 Millionen Besucher kamen im vergangenen Jahr, Maschinen mit Neuankömmlingen landen im Zweiminutentakt.

Es ist noch keine fünf Jahre her, dass Las Vegas alles darauf setzte, sich als familienfreundliches Wüsten-Disneyland auf dem touristischen Markt zu positionieren, Streichelzoos inclusive.

Dann wollte es als Feinschmecker-Zentrum reüssieren und kurz darauf als Hort der Künste: Klassikpianisten, russische Impressionisten und ein Ableger des Guggenheim Museums wurden nach Nevada gelockt.

Das alles floppte mittelprächtig: Die Einnahmen der Casinos sanken rapide. Irgendwer hat schließlich erkannt, dass weder Vernissagen noch Kinderwagen in Casino-Foyers bei Leuten ankommen, die auf dem Weg zum neunten Martini sind, nachdem sie bei einer nachmittäglichen Pokerrunde soeben 8000 Dollar verloren haben.

Deshalb will Vegas jetzt die Kehrtwende. Und dieses Mal will es zurück zu den Ursprüngen. "Sin City Has Found Its Soul", orakeln Leuchtreklamen am Strip. Vegas will seinen verruchten Ruf zurück, Vegas will Lust und Laster, selbst der Bürgermeister fordert mehr Sex: "Wir brauchen", hat Oscar B. Goodman neulich bemerkt, "wir brauchen die Freiheit der Sinnlichkeit!"

Zurück zur Verruchtheit

Wie die aussehen soll? Wie die neue Show des renommierten Cirque du Soleil beispielsweise. "Zumanity" hatte Mitte August im "New York-New York" Premiere und versteht sich als "Erotic Cabaret".

Worunter seine Macher wiederum leicht bekleidete Schwimmerinnen in eindeutigen Unterwasser-Umgarnungen versteht, plus Soft-Porno-Gepose und ein paar angedeutete S/M-Szenen.

Das Ganze hat in der Produktion immerhin 15 Millionen Dollar gekostet und gilt schon jetzt als Maßstab für alle anderen. Und die Mitbewerber legen emsig nach: Die Tanzshow "La Femme" im MGM Grand imitiert eine Crazy-Horse-Produktion mit einer Minimalausstattung an Kostümen.

Ein paar Schritte weiter balancieren die Bedienungen der "Tabu Lounge" Tequilagläser zwischen nackten "Silikon-trotzt-Schwerkraft"-Brüsten; zwei VIP-Räume verfügen über einen "dedicated model service", was immer das heißen mag.

Las Vegas
:Die Stadt der Hotels

Hotels, Casinos, Wedding Chapels und Frauen: Das ist Las Vegas.

Im "Studio 54" tanzen Männer und Frauen in Käfigen, und im "Palms Hotel" wurden einige Suiten mit Eisenstangen für Stripperinnen ausgestattet. Möglicherweise ist es ja wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis Celine Dion bei ihrer "A-New-Day"-Show im "Caesars Palace" im durchsichtigen Oberteil und mit Lederpeitsche in der Hand auftritt.

Der Strip bei Nacht ist legendär. (Foto: Foto: AP)

Untermauert wird der Trend zu nackter Haut vor allem durch die Statistik: Es sind noch immer Männer zwischen 25 und 45 Jahren, die die meisten Dollars in der Wüstenstadt lassen.

"Wir wollen die Dotcoms!", sagt Steve Cyr, dessen poppig designtes "Hard Rock Casino" die Zeichen der Zeit als Erstes erkannt hat und mittlerweile als Epizentrum der neuen Vegas-Szene gilt, "wir wollen die Jungen, die Hippen, die Leute, die glauben, dass sie ihre Verluste morgen an der NASDAQ wieder einfahren können".

Und wie bekommt man die? Zum Beispiel mit einem Casino, dass aussieht wie ein MTV-Studio. Mit Blackjack-Tischen mitten in einem Pool, über den "You can't always get what you want" von den Stones dröhnt.

Und überhaupt mit Bar-Girls, handverlesen und zur Not auf Kosten des Hauses zum Silikon-Einsatz nach Kalifornien geschickt. "We all want pussy, Baby!", meint Steve Cyr dazu. Da wird dann wohl was dran sein.

Möglicherweise sind Typen wie er ja wirklich die Macher des neuen Vegas: Jung, heiß, einfallsreich - und skrupellos bis an die verwaschenen Grenzen der Legalität.

Das Ziel sind die Wale

Um an einen Wal zu kommen (so heißen in Vegas in Verkennung biologischer Fakten die fettesten Fische im Meer der Spieler), arbeitet Cyr mit allen Tricks. Kündigt unter falschem Namen Reservierungen bei anderen Hotels, fängt Spieler am Flughafen ab, versorgt sie mit der besten Suite, Casino-Chips für 5000 Dollar, Champagner und den schönsten Frauen der Stadt - wenn sie nur bei ihm spielen.

Jedes Casino beschäftigt Hosts wie ihn. Männer, die mithilfe von Handys und einem Schlafbedürfnis von maximal drei Stunden über Millioneneinsätze entscheiden. Die den Ehefrauen für 10.000 Dollar Präsente bei Prada und Gucci kaufen, während deren Ehemänner 250.000 Dollar beim Baccarat verlieren.

Casino-Hosts buchen Madonna für einen 800.000 Dollar teuren Kurz-Auftritt, setzen ihre Wale in die erste Reihe - und hoffen, dass diese im Überschwang der Hormone eine Million setzen werden.

Die Hosts holen ihre potentesten Kunden mit dem Lear Jet in Manhattan ab. Haben die Mobilfunknummer jedes illegal operierenden Call-Girls in Nevada im Kurzwahlspeicher. Und wissen ganz genau, bis an welche Grenze sie gehen dürfen in einer Stadt, deren Machtstrukturen noch immer alles andere als transparent sind.

Über dieses Thema möchte Bob Thompson dann aber doch eher nicht sprechen: Der Mann organisiert die "World Series of Poker" für das Horseshoe, einen Downtown-Casino-Saurier, dessen Besitzer Benny Binion vor ein paar Jahren vom Mob erschossen wurde.

Krieg bis aufs Messer

Seitdem bekriegen sich Binions Nachkommen bis aufs Messer, es gab weitere Tote und mehrere Male "lebenslänglich". Bob ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass man so etwas besser nicht kommentiert. Erst recht nicht in einer Stadt, deren Bürgermeister in seinem früheren Leben der beste Strafverteidiger war, den die Mafia je hatte.

Ansonsten sieht Thompson nicht so aus, als könne ihn nach einem halben Menschenleben Las Vegas noch irgendetwas aus der Ruhe bringen: Steingraues, halblanges Haar unter einem Stetson, eine Nase wie der Schnabel des amerikanischen Wappentieres und Stiefel, für die mehrere Klapperschlangen-Familien ihre Haut lassen mussten - ein Mann wie herausgezoomt aus einem John-Ford-Western.

Und außerdem ausgestattet mit der Fähigkeit, die wichtigsten 117 Poker-Partien der letzten Turniere Karte für Karte stoisch nachzuerzählen, wobei sich seine Mimik irgendwo zwischen Clint Eastwood und Buster Keaton bewegt - nämlich gar nicht.

Aber wenn es um Vegas geht, sein Vegas, kommt Leben in sein Pokerface. Die Stadt sei in den letzten Jahren zu einem Freizeitpark verkommen, echauffiert er sich. Er habe sich gewundert, dass nicht irgendwann komplette Schulen ihre Ausflüge an den Strip gemacht hätten.

"Ich hab weiß Gott nichts gegen die Familie, die auf ein Wochenende hierhin kommt. Ich hab aber was gegen sieben Kleinkinder, deren Gebrüll meine Spieler durcheinander bringt."

Er schaut für einen Moment aus dem Fenster, als überlege er, ob das wirklich ein guter Satz war gerade eben. Unehrenhaft, sagt er, das sei das richtige Wort: "Ich finde es unehrenhaft, die Leute mit dieser Spielplatz-Atmosphäre einzulullen, wo man doch nur ihre Dollars will."

Früher sei Vegas ein Ort für Profis gewesen. Für Spieler, die beim Zocken schwiegen, Bourbon auf Eis bestellten und es nie gewagt hätten, in etwas anderen als in Hemd und Jackett in ein Casino zu kommen.

Und heute? "Heute sitzen sie in Hawaiihemden vor mir, trinken papageienfarbene Cocktails und brechen mittendrin ab, weil sie sonst zu spät zur Piratenschlacht draußen kommen."

Laszive Meerjungfrauen

Möglicherweise hat Mr. Thompson sein nostalgisch verklärtes Las Vegas bald schon zurück. Das allabendliche Freibeuter-Spektakel vor dem "Treasure-Island"-Hotel jedenfalls soll einer Show weichen, in der laszive Meerjungfrauen die Hauptrollen spielen - die barbusigen Minsky's Follies hatten in den Fünfzigern eine ähnliche Nixen-Nummer im Programm.

Auffallen wird eine weitere Baustelle am Las Vegas Boulevard sowieso nicht, hier baut gerade jeder um oder an: Das "Caesars" erweitert, sein Bauzaun sieht aus wie eine Palastmauer, "Rom brauchte viele Jahrhunderte zum Werden", nickt man Richtung ganz altes Europa, "Bei uns müssen Sie nicht so lange warten!".

Ein paar Blocks weiter werkeln die Bautrupps an Steve Wynns neuem Super-Casinohotel "wynn las vegas", 1,8 Milliarden Dollar voraussichtliche Kosten, 2071 Zimmer, fertig 2005.

Das "Bellagio" erweitert um 925 Zimmer, das "Mandalay Bay" um 1125, das "Venetian" hat gerade 1013 neue Zimmer fertig. Und die Hilton-Gruppe hat auf dem Strip eine Baugrube ausgehoben, in der man eine komplette Stadt in die Höhe ziehen könnte. Es wird aber nur ein Gebäude mit 300 Time-Share-Einheiten, für alle, die eine Bleibe für mehr als nur ein paar Tage suchen.

Andere wären schon froh, wenn sie Dr. Bo Bernhard finden würden. Der promovierte Soziologe kümmert sich "um die Menschen im Schatten der grellen Lichter von Las Vegas" und ist Mitbegründer des Problem Gambling Centers - einer von Bund und den Casinos finanzierten Einrichtung, die Spielsüchtige betreut.

Schätzungsweise jeder fünfte Haushalt in Las Vegas hat so einen Problemfall: Menschen, die sich in den Ruin gespielt haben, weil sie nicht anders konnten. Die ihren Beruf, ihre Sicherheiten, ihre Familie verloren haben, weil nichts wichtiger war in ihrem Leben als die täglichen zwölf Stunden im Casino.

In Windeln vor der Rauschzone

Die bis vor kurzem noch in Windeln vor den Slot-Machines gehockt haben, damit sie "die Zone", wie Bernhard den rauschartigen Zustand der Spielsüchtigen nennt, nicht verlassen mussten.

Bernhard sieht den Wandel von der Family City zurück zur Sin City gelassen, viel wird sich für ihn nicht ändern, seine Klientel setzt sich fast ausschließlich aus Einheimischen zusammen, die spielen sowieso.

"Das Crack unter den Spieler-Drogen ist Video-Poker. 95 Prozent meiner Patienten sind davon abhängig", sagt Bernhard. "Die Einsätze lassen sich beliebig steigern. Die Automaten gaukeln einem vor, dass man durch Training besser wird. Ich habe Patienten, die nur noch 15 Prozent Bewegungsfähigkeit in ihrem rechten Arm haben, weil sie tagelang die Knöpfe an den Maschinen gedrückt haben."

Bernhard glaubt, dass die Zahl der Abhängigen explodieren wird, wenn sich das Spielen via Internet durchsetzt. "Dann müssen die Leute noch nicht einmal mehr ihre Wohnung verlassen. Falls sie noch eine haben. Online-Gambling wird mehr Menschenleben fordern als Alkohol." Die Stadt mit der höchsten Selbstmordrate der USA: Auch das ist Las Vegas.

Las Vegas wird das nicht stören. Las Vegas will Profit, sonst nichts. Und seine Besucher werden ihm diesen Profit weiterhin bringen, weil sie weiterhin kommen werden.

Vor kurzem hat Vegas Mekka als den meist besuchten Ort der Welt überholt. Da werden auch ein paar Verlierer für Steve Cyr dabei gewesen sein.

Informationen

Anreise: Delta Air Lines fliegt täglich von Frankfurt einmal über Cincinnati und zweimal über Atlanta, ab München und Stuttgart über Atlanta nach ab 465 Euro zuzüglich Steuern. (414.00 Euro plus ca. 56 Euro Steuern vom 1. 11. bis 16. 12. 03)

Hotels und Bars: "Hard Rock Hotel and Casino": 4455 Paradise Road, Tel: 001/(702)/693-50 00. DZ ab 79 US-Dollar. Internet: http://www.hardrockhotel.com.

"Palms Casino": 4321 Flamingo Rd., Tel: 001/(702)/942-77 77. DZ ab 69 US-Dollar, Internet: www.thepalmslasvegas.com.

"Zumanity": Infos und Tickets zur Show online über www.zumanity.com oder telefonisch: 001/(702)/740-68 15.

"Tabù Bar" und "Studio 54": Beide im MGM Grand, Las Vegas Boulevard/Tropicana Ave., Tel: 001/(702)/891-32 04. DZ ab 79 US-Dollar, www.mgmgrand.com

Weitere Auskünfte: Las Vegas Convention & Visitors Authority, c/o Mangum Management, Sonnenstr. 9, 80331 München, 089/23 66 21-0, www.lasvegasfreedom.de

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