Kolumne "Mitten in ...":"Zehn Briefmarken und ein Katzenvideo, bitte"

In Leipzig kann die Schlange am Postschalter gar nicht lang genug sein. Und in Tokio warten Eisenbahner sehnsüchtig auf ein Haushaltsgerät.

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Leipzig Wer mal eben ein Paket aufgeben will, der kann das in einer dieser kleinen Postfilialen tun, die halb Schreibwarenladen, halb Eckkneipe sind. Hinter dem gelben Tresen steht meist eine einzelne Person, die zu Stoßzeiten gleichermaßen Zalando-Retouren und den Zorn der Wartenden zu empfangen hat. Nicht so im Leipziger Süden, dort stehen die Kunden stets brav in einer Reihe, Kartons an den Bauch gepresst, Kuvert unter dem Arm, stumm den Blick geradeaus gerichtet. Neben dem Postschalter hängt ein Bildschirm, auf dem lustige Tiervideos flimmern. Sie sollen die Zeit verkürzen. Bulldogge in der Hängematte. Zicklein öffnet Autotür. Spitz planscht in Toilettenschüssel. Kaiman kriegt den Bauch gekrault. Golden Retriever fährt Eisenbahn. Die Dame hinter dem gelben Tresen räuspert sich: "Entschuldigung, der Nächste bitte." Niemand reagiert, hypnotisierte Schlange. Ulrike Nimz SZ vom 16. November 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Tokio Der Bahnsteig in Shinagawa ist blitzsauber, wie in allen 2210 Bahnhöfen Tokios. Japaner werfen nichts auf den Boden. Fällt doch ein Papierchen runter, taucht bald ein Eisenbahner mit Schaufel und Kehrbesen auf. In Shinagawa kratzt gerade einer mit einem Spatel Kaugummi vom Boden. Das sei eklig, aber nicht so eklig, wie wenn er Erbrochenes aufwischen müsse, sagt er. Und erbrochen werde in Tokios Bahnhöfen oft, in Shinagawa durchschnittlich 20-mal täglich, an Freitagen 50-mal, vor allem spätabends, sagt er. Japanische Angestellte müssen nach der Arbeit mit ihren Kollegen noch in die Kneipe, zwangsnetzwerken. Besonders schlimm ist es zu Silvester, da wird besonders viel gebechert. Doch es naht Abhilfe. Bis zum Jahresende sollen alle großen Bahnhöfe in Tokio mit einem neuen Gerät ausgerüstet sein: mit einem Spezialstaubsauger - für Kotze. Christoph Neidhart SZ vom 16. November 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Affi Wanderung auf den Monte Moscal, oberhalb von Affi. Eigentlich herrlicher Blick auf die Bucht von Garda - wenn nur die Herbstwolken nicht so tief hingen. Auf dem Rückweg ein Häuschen mit üppig wucherndem Garten. Eine grauhaarige Frau pflückt orangefarbene Früchte. Wir grüßen. Wenig später eilige Schritte hinter uns. Es ist die Frau, sie hat beide Hände voll mit dem feigengroßen Obst. Die Früchte wolle sie einer Freundin im Dorf vorbeibringen. Die ist allein. Die Tochter ist auf Sizilien, verheiratet oder verreist, so genau verstehen wir es nicht. Ob wir probieren wollten? Hinter der weichen Schale poppen tiefrote kleine Perlen hervor. Säuerlich süß schmecken sie. Wie die Frucht heißt? Die Frau zuckt mit den Schultern. So genau wisse sie das nicht. Deshalb hat sie sich selbst einen Namen ausgedacht, der passender nicht sein könnte: mille grani, tausend Körnchen. Reymer Klüver SZ vom 16. November 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... München In einem Münchner Einkaufszentrum der Sorte Saturn-dm-Rewe-Aldi-Backshop-und-in-der-Tiefgarage-noch-ein-Baumarkt steige ich in den Aufzug ein, gemeinsam mit zwei Jungs um die Zwanzig, Hoodies, Trainingshosen. Die Türen schließen sich, der Aufzug setzt sich langsam in Bewegung. Sagt der eine zum anderen: "Du, ich weiß gar nicht, wie das geht, so Lasagne machen." Antwortet der andere: "Du, ist eigentlich voll einfach. Ich mach immer so zwei Soßen. Ist voll geil." Der eine: "Kann ich da so Soße machen wie für Spaghetti, oder?" Der andere: "Ja genau, eine helle, eine normale, und dann so schichten, weißt schon. Voll gut." Der eine: "Boah, ich kann so was eigentlich überhaupt nicht. Aber weißt du, was ich kann: BH mit einer Hand aufmachen." Der andere: "Solange du das kannst, kannst du auch alles andere." Mercedes Lauenstein SZ vom 9. November 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Yellowstone "Wild animals are dangerous", steht im Yellowstone-Nationalpark an jeder Ecke, natürlich auch auf dem Schild auf unserem Campingplatz. Es gibt klare Verhaltensregeln und einen empfohlenen Mindestabstand, bei Bären 100, bei Bisons 25 Meter. Am nächsten Morgen grasen zwei Hirsche vor unserem Zelt, so weit, so harmlos. Abends aber steht da plötzlich ein Bison. Ein schöner Anblick - aus sicherer Entfernung. Kommt bestimmt häufiger vor, sagen wir uns, während wir ums Feuer sitzen. Das Bison allerdings rückt näher, noch 25 Meter, 15, zehn, fünf. Zum Verdauen lässt sich der Koloss direkt zwischen unseren Zelten nieder. Nach einiger Überwindung huschen wir, bemüht, nur ja nicht zu hektisch zu wirken, unter den in der Dunkelheit leuchtenden Augen unseres tierischen Nachbarn ins Zelt. Zum Einschlafen höre ich es draußen neben mir beharrlich kauen. Florian Kaindl SZ vom 9. November 2018

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Mitten in ... Bordeaux An der Allée de Chartres, nahe dem Museum für zeitgenössische Kunst, parkt man nicht in einem dystopisch düsteren Parkhaus, sondern oberirdisch unter Platanen. Das ist idyllisch, man würde einen Parkplatzwächter mit Baskenmütze und Abreißblock erwarten, aber natürlich zieht man auch hier ein Ticket an der Schranke. Immerhin, der Bezahlkasten ist nachher rasch gefunden, er hat einen Schlitz für die EC-Karte, ein Tastenfeld für die PIN und einen Ausgabeschacht für die Quittung. Aber wo ist die Öffnung für das Parkticket? Ich halte die Karte davor, fingere die Oberfläche ab - vergeblich. Da sagt der Apparat freundlich: "Monsieur." Hat man den Service-Ruf aktiviert? "Monsieur." Oder kann der Automat Gedanken lesen? Da sagt die Stimme: "Ici." Sie gehört einer Frau im Wagen genau hinter dem Kasten. Der richtige Automat, sagt sie, stehe da hinten. Wolfgang Janisch SZ vom 9. November 2018

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Mitten in ... Newark Der Flughafen Newark ist ein Ort zum Flüchten. Niemand fühlt sich wohl, außer vielleicht der Teppichhändler, der hier einst den scheußlichsten Teppichboden der Luftfahrtgeschichte verlegt hat: Sein Muster erinnert an einen Nadelstreifenanzug aus "Miami Vice". Zum Davonlaufen - und so landet man zwangsläufig im Duty-Free-Shop, der hat einen Fliesenboden. Während man durch die Regale mit den Parfums und Spirituosen streift, hört man, wie ein Verkäufer mit einer anderen deutschen Kundin smalltalkt. Er habe einen deutschen Vornamen, erzählt er stolz: "I'm Schneider - that's typical German, right?" Seltsames Völkchen, diese Amis, denkt man. Um kurz darauf am Bodyscanner beschämt zusammenzuzucken, als andere deutsche Reisende ein Liedchen anstimmen: "Zieh dich aus, kleine Maus, mach dich nackig!" Typisch deutsch? Bitte nicht! Johanna Bruckner SZ vom 2. November 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Ehrwald Mittagessen in einem Hofladen mit Lokal im Schatten der Zugspitze. Der ältere Sohn bestellt Hirschwürste, der arme Kerl wächst unter der kulinarischen Obhut von zwei Vegetarier-Eltern auf, da gibt es zu Hause nicht so oft Fleisch. Doch die Würste schmecken dem karnivoren Siebenjährigen nicht. Der Vater gerät in einen Gewissenskonflikt: Soll er mit seinem Sohn Teller tauschen und nach sieben Jahren Fleischabstinenz die Würste essen? Es wäre ja auch verwerflich, sie wegzuwerfen. Also her damit. Während er isst, hört er zwei Einheimischen am Nachbartisch zu: "Ich schlachte bald, brauchst du was", sagt der eine. "Was denn?", fragt der andere. "Ein Milchkalb. Und einen Ochsen. Zweieinhalb Jahre ist er alt." Kurze Pause. "Er heißt Ludwig." Erbarmen, das mit den Würsten bleibt eine einmalige Sache. Großes Vegetarierehrenwort. Sebastian Herrmann SZ vom 2. November 2018

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Mitten in ... Basel Um fünf Uhr früh aufstehen am Wochenende, dann sechs Stunden mit dem Zug fahren, ein paar Stunden in Basel verbringen, bevor es noch am selben Tag wieder heim geht, mit dem Nachtbus - und das alles nur, um einmal die Schweizer Tennis-Legende Roger Federer live zu sehen. Verrückt? Klar! Die pompöse Lightshow in der St. Jakobshalle setzt ein, Federer betritt den Court. Und schon hat sich die Reise gelohnt. Der Sitznachbar kreischt verzückt und stellt den Fotoapparat auf Dauerfeuer. Über die Kurz-Odyssee von München nach Basel kann er nur müde lächeln. Er kommt extra aus Indien, erzählt er, nur für das eine Spiel. Bis zum letzten Satz bleiben könne er aber leider nicht, der Heimflug... Er wolle nur Roger Federer sehen, "he plays like music", sagt er und flüstert: "Federer is god." Dann verstummt er ehrfürchtig. God is ready to play. Susi Wimmer SZ vom 2. November 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Istanbul Wenn ich nachts nach Hause komme, schläft auf meiner Treppe ein großer Hund. Zuerst bin ich vorsichtig über ihn hinweg gestiegen. Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu Hunden. Ich wohne im siebten Stock, einen Aufzug gibt es nicht, der Hund liegt meist im zweiten. Er ist alt. Ich habe ihm einen Namen gegeben, ich dachte, es ist besser, wenn ich ihn anspreche, bevor ich drübersteige, etwa: Alles gut, Herr Knut. Manchmal hebt er dann ein Augenlid. Gestern habe ich Herrn Knut von weitem auf unserer Straße gesehen, wo er tagsüber lebt. Ich habe ihn nicht gegrüßt. Er stand auf, folgte mir. Ich dachte, kennt mich jetzt der Hund? Glaubt der etwa, ich lass ihn ins Haus, wie das immer jemand macht, von dem ich denke, warum lässt der bloß den Hund ins Haus? Ich sperrte die schwere Tür auf. Herr Knut lief die Treppen hinauf. Zweiter Stock. Gute Nacht, sagte ich. Christiane Schlötzer SZ vom 26. Oktober 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Poing Als die Harley auf den Supermarktparkplatz einbiegt, wird es laut. Sehr laut. Das Motorengeblubber, eine Wucht! Und dann sind da noch die chromblitzenden Lautsprecher am Lenker, aus denen ein Oldie scheppert. Vom Sattel schwingt sich das Prachtexemplar eines Bikers hinab: grauer Pferdeschwanz, der bis zum Po reicht, über den Bauch spannt sich eine Lederweste, übersät mit Aufnähern, Motorradclub Soundso und "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein". Statt eines Gürtels trägt er eine Kordel. Mehr Klischee geht kaum, eigentlich fehlt nur noch ein Rauschebart. In der Kassenschlange steht der Harleyfahrer sehr raumfüllend an, lässig über den Einkaufswagen gelehnt, das Hinterteil ausgefahren, ständig gegen den Wagen hinter sich stoßend. Er legt seine Waren aufs Band: zehn Dosen Radler, alkoholfrei. Ein harter Kerl, der sehr soft trinkt. Nadeschda Scharfenberg SZ vom 26. Oktober 2018

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(Foto: Marc Herold)

Mitten in ... Ulan Bator Deutsch? Der Busfahrer ist begeistert. "Muller, Sweinsteiger. Spielen sehr gut." In der Hauptstadt der Mongolei sprechen viele Menschen Deutsch. Das liegt an der sozialistischen Freundschaft, die einst die DDR mit diesem fernen Steppenland verband. Das Interesse an den Deutschen ist geblieben: Die Fußball-WM verfolgte man in Ulan Bator auf Großbildschirm in Deutschland-Trikots. Die Nationalmannschaft hat einen deutschen Trainer, steht leider aber nur auf Platz 186 der Fifa-Weltrangliste. Der Fahrer kennt sich gut aus in der Welt des Fußballs. Ob er gehört hat, dass die Mongolei seit September eine Frauen-Nationalmannschaft hat? Die Fußballerinnen haben sich gerade für die Ostasiatischen Meisterschaften 2019 qualifiziert. Der Mann lächelt höflich. Den Namen der Torschützin Tsolmon Ganchimeg hat er noch nie gehört. Ulrike Heidenreich SZ vom 26. Oktober 2018

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