Klettersteigen:Extremsport für Amateure

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Während der Alpinkletterer als Individualist gilt, ist der Ferratist ein Herdentier - auch wenn er diese Tatsache gern verdrängt. Warum Klettersteige viele Berggänger faszinieren.

Tobias Moorstedt

Das Warnschild ist nicht zu übersehen, schwarze Buchstaben auf gelbem Grund. Eine sorgfältige Hand scheint die Metallfläche erst kürzlich von Moos und Granitstaub gesäubert zu haben. "Solo Alpinisti Esperti", steht auf dem Schild vor dem Klettersteig Ferrata del Canalone - nur für Könner.

Klettersteiger müssen schwindelfrei sein. (Foto: Foto: ddp)

50 Meter verläuft der Steig in beinahe perfekter Vertikale, gesichert mit einem Stahlseil, knifflige Stellen sind zusätzlich mit Metallstiften versehen. Ein kleiner Überhang direkt unter dem Gipfel lässt sich lässig mit fünf Leiterstufen überwinden. Das ist das Schöne am Klettersteig-Gehen: Wer schwindelfrei ist, trittsicher, halbwegs trainiert und dazu noch ein wenig Bergerfahrung besitzt, kann durch die Klettersteig-Sicherungssysteme relativ schnell eine 50 Meter hohe Wand durchsteigen. Da steht man dann - offensichtlich ein alpinistischer Experte. Das Warnschild wird zum Kompliment.

Der Mensch nimmt die Kräfte zehrende Tätigkeit des Bergbesteigens nicht ohne Grund auf sich. Manche reizt die sportliche Herausforderung oder die Selbstüberwindung, andere suchen Abstand zur brausenden Großstadt, das innere Gleichgewicht oder doch nur das Idealgewicht. Der Klettersteiger (auch: Ferratist) ist zwischen Kletterern und Wanderern eine weitere Sub-Spezies des Homo Alpinus, der sich in den Gebieten oberhalb von 800 Metern in den vergangenen Jahren rapide ausgebreitet hat.

Er möchte hohe Gipfel erklimmen und steile Wände durchsteigen, scheut aber die Kraft und Freizeit raubende Ausbildung zum echten Kletterer. Die Ferrata del Canalone im italienischen Pala-Massiv ist sein idealer Lebensraum: der Dolomiten-Fels ist griffig, die Wand spektakulär und die Hütte nur 30 Meter vom Einstieg entfernt. Der Dolomiten-Klettersteig-Ratgeber meint: "Rassig und sportlich, aber ohne sinnlose Anstrengungen.'' Besser kann man das Lebensgefühl des Ferratisten nicht auf den Punkt bringen: maximales Erlebnis bei geringem Aufwand, Hardcore für Weicheier.

Mehr als 500 Klettersteige gibt es mittlerweile alpenweit. Experten schätzen, dass ihre Zahl bis 2010 auf bis zu 800 ansteigen wird, einige bemängeln einen wahren Wildwuchs. Die genaue Anzahl der Aktiven lässt sich zwar kaum ermitteln, da Klettersteiger von den Bergsportinstitutionen nicht gesondert erfasst werden.

Die Sportartikelhersteller verkaufen jedoch Jahr für Jahr mehr ihrer etwa 100 Euro teuren "Ferrata-Pakete'' (Komplett-Gurt, Klettersteigbremse, Helm). Manche Stellen im Wetterstein sind kaum weniger frequentiert als die Autobahnen am Fuß des Massivs.

Das Gegenteil dieser Rushhour-Klettersteige findet man zum Beispiel im Pala-Massiv in den südlichen Dolomiten. Grüne Bergrücken, eisengraue Kalkstein-Abbrüche, verwachsene Kiefern - ein monumentales, beinahe vorzivilisatorisch wirkendes Szenario. Das Bergmassiv zwischen St.Martino di Castrozza und Agordo gehört zu den einsamsten Ecken der Region. Gleichzeitig gibt es mit der Via Ferrata Stella Alpina und dem Bolver-Lugli-Klettersteig zwei spektakuläre Klettersteige.

Auf 2045 Metern über Agordo führt nur ein kleiner gelber Pfeil nach links. Die letzte Abzweigung zur Via Ferrata Stella Alpina ist kaum zu erkennen. 300Meter ragt der Fels senkrecht in die Höhe. Erst nach einer Weile erkennt man in der grauen Wand die ausgebleichten Farbmarkierungen und Aufstiegshilfen - ohne die Seile, Stifte und vereinzelten Sprossen wäre die Wand wohl mit dem 5. oder 6. Schwierigkeitsgrad zu bewerten.

Ein schmaler Kamin führt nach oben, die Wand ist luftig und ausgesetzt. Immer wieder gerät man an eine Stelle, an der man den Körper mit purer Armkraft am Seil empor wuchten muss.

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Leichte Stellen sind beim Hochthron-Klettersteig die Ausnahme: Der Großteil der Route bewegt sich im Klettersteigschwierigkeitsgrad C und D, und das in einer durchwegs steilen, häufig sogar senkrechten Wand.

Am Ende der Seilsicherung schmerzt der Bizeps, stechen die Lungen. Auf 2700 Metern ist bereits das Biwak unter dem 2872 Meter hohen Gipfel des Monte Agner zu erkennen. Eine rostig-rote Blechschachtel im harten Alpenwind.

Spätestens jetzt fühlt man sich wie ein Himalaya-Tourist, wären da im Hintergrund nicht die bekannten Gipfel der Tofane oder des Rosengartens zu sehen. Trotzdem: der Klettersteig ermöglicht einen neuen Blick auf die Berge. Im Klettersteig läuft man nicht um den Fels herum, sondern in ihn hinein. Plötzlich sieht man aus der eigenen Perspektive die steilen Abbrüche, die Zacken und Felsbögen, die Kunstwerke der Erosion. Und in den Felslöchern blühen die Glockenblumen.

Andererseits ist die Zivilisation auf der Pala immer nur einen halben Tagesmarsch entfernt. Auf dem Rifugio Scarpa unterhalb des Monte Agner wartet der Wirt schon mit einer kostenlosen Salbe gegen Schmerzen und einem Steinpilz-Risotto auf die Quasi-Extrem-Sportler. Anders als beim Bergwandern kann man dabei nicht nur über Panorama und Wetter reden, sondern hat etwas wirklich Aufregendes zu erzählen.

Der Bolver-Lugli-Steig, der auf die 3192 Meter hohe Cima della Vezzana führt, gilt als eine der schönsten Routen der ganzen Alpen, eine "Perle'', sagt der Führer, und hat Recht. Nach einem frei zu kletternden Schrofenvorbau ist man schon warm und bereit für die 1050 Meter hohe Wand. Der Steig ist eine harmonische Komposition, eine Folge von Anspannung und Entspannung.

Ein Handgriff folgt auf den anderen, ohne nachzudenken findet man den richtigen Tritt, atmet durch, drückt sich nach oben, greift nach einer Kerbe im Fels, findet den richtigen Tritt, atmet durch ... In den besten Momenten gerät der Klettersteiger in diesen flow genannten Zustand, die Trance der Tat.

Dazu schlägt der Karabiner mit einem lauten Ploink gegen das Metallseil, reibt beim Aufstieg über die raue Oberfläche, erzeugt ein sirrendes Geräusch, das gleichzeitig beruhigend und aufregend zugleich klingt. Der Soundtrack der Gipfelstürmer.

Während der Alpinkletterer eher als Individualist gilt, der seinen eigenen Weg geht, ist der Ferratist ein Herdentier - auch wenn er diese Tatsache gern verdrängt. Die Sicherungslinie ist wie eine Straße, die den Berg hoch führt.

Manchmal kann man die Straße verlassen, um abseits in der Natur ein bisschen zu spielen, alternative Griffe und Tritte auszuprobieren, die Wand ohne Griff ans Seil besteigen.

Einen guten Klettersteiger zeichnet nicht aus, dass er seine Grenzen durchbrechen will, sondern dass er um sie weiß und im Zweifel auf Nummer sicher geht.

© SZ vom 18.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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