Irgendwie heroisch:Die Retro-Radler

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Das Gefährt ein Oldtimer, die Strecke eine Schotterpiste. Unterwegs auf der Tour der Helden durch die Toskana.

Thomas Becker

Eine Horde Motocross-Fahrer saust vorbei, dass die Steine spritzen. Die Gesichter sind hinter den Helmen nicht zu sehen, aber ihre Gedanken können wir lesen: Aus welchem Jahrhundert sind die denn übrig geblieben?

Sehr vorsichtig geht man zu Werke mit einem Retro-Rad. (Foto: Foto: Brooks)

Die, das sind wir, tragen in der Mittagshitze schwarze Radlertrikots aus Wolle vom Merinoschaf, sitzen auf sehr alten Rädern und zittern eine höllensteile Schotterpiste hinab.

Gaiole, ein 5000-Einwohner-Ort zwischen Florenz und Siena, mitten in der historischen Provinz Chianti, Schauplatz der "Eroica", der Tour der Helden: 901 Menschen werden hier am kommenden Tag auf eine der vier Strecken gehen.

Wer die 200- oder die 135-Kilometer-Variante gewählt hat, muss früh um sechs los, wer sich mit 38 oder 80 Kilometern begnügt, um neun.

Nur, die "Eroica" ist kein Straßenrennen: Mehr als die Hälfte der Strecke führt über Schotterpisten, die so genannten strade bianche. Und das alles auf alten Rädern: Der Methusalem stammt von 1890, ein "Clement" aus Frankreich. Unsere Räder sind gut 70 Jahre jünger, aber auch an die muss man sich erst gewöhnen. Immerhin: zehn Gänge. Die echten Retro-Radler sind mit zweien unterwegs. Und die kann nur wechseln, wer das Hinterrad abmontiert und umdreht.

Die Wolle kratzt

Training mit den "Bianchi"-Rädern. Die erste Abfahrt endet im Graben: Der Lenker war nicht fixiert. Sehr vorsichtig geht man nun zu Werke. Der erste Muskelkater kündigt sich an: Finger und Nacken - die ungewohnte Bremserei tief unten am Rennlenker.

Entspannter geht es auf der Straße weiter, hinauf zum Benediktinerkloster Badia di Coltibuono. Ein sehr alter Mann fährt sehr langsam an uns vorbei. High-Tech-Rennmaschine, im unvermeidlich quietschbunten Radler-Kostüm.

Begutachtet unsere Ausrüstung, die auch mal die seine war, und kurbelt mit seinen 27 Gängen außer Sichtweite. Die Wolle kratzt, lässt einen schwitzen, doch der Ausblick des Klosters entschädigt. Wir treffen Emanuela Stucchi Prinetti, die Hausherrin. Seit 1846 gehört der Familie das 800 Hektar große Weingut, später kam eine Fabrik in Mailand hinzu, die Rennräder produzierte, sogar für einen Giro-Sieger.

Der Rückweg wäre ein Genuss, wüsste man nicht, dass es am Ende nochmal so steil bergauf geht, dass das Hinterrad auf den Steinen durchdreht. Irgendwann ist es geschafft, man beginnt, der Sache mit dem Schotter etwas abzugewinnen. Ein bisschen wie Skifahren neben der Piste: wild, unkonventionell.

Abstruse Rennen

Prompt schmeckt das Abendessen gleich ganz anders. Im Gemeindesaal sitzen wir mit freiwilligen Helfern an einer langen Tafel, essen Pasta aus Papptellern, trinken prima Wein. Mit dabei: Giancarlo Brocci, der Erfinder von "L'Eroica", ein Endvierziger, früher war er Mediziner und Journalist, lebte zur Untermiete in Siena, bis ihm die alte Dame ein Vermögen vererbte und Brocci den Radsport entdeckte: schrieb ein Buch über den Helden der 1950er, Gino Bartali, bestritt so abstruse Rennen wie Paris-Brest-Paris, Bordeaux-Madrid oder Paris-Roubaix und gründete den Verein "Parco ciclistico del Chianti", der sich der Erhaltung der strade bianche verschrieben hat.

1500 Kilometer gibt es in der Provinz Siena noch, und die gehören laut Brocci zum Bild der Toskana wie Zypressen, Weinberge und Olivenbäume. Anderer Meinung sind die einflussreichen Besitzer von Luxushotels, deren Klientel lieber auf Asphalt anreist, statt sich ihr teures Auto zuzustauben.

Erster Ledersattel

Doch die Schotter-Gemeinde wächst: Erstmals seit 23 Jahren führte der Giro d'Italia wieder über strade bianche, wenn auch nur acht Kilometer lang. Als die "Eroica" vor neun Jahren startete, fuhren 101 Radler mit, letztes Jahr 470, nun fast doppelt so viele. Ein Sponsor hilft: Brooks, der Sattelbauer mit der netten Firmengeschichte: 1866 kaufte der 19-jährige John Boultbee Brooks ein Rad, ärgerte sich über den unbequemen Sattel.

Kein Wunder: Der war aus Holz. Im Stall des Vaters, der Pferdesättel fertigte, entstand der erste anatomische Radsattel aus Leder. 15.000 Mitarbeiter produzierten in den 1950ern bis zu vier Millionen Sättel pro Jahr - bis 1975 der Plastiksattel kam. Heute arbeiten noch 22 Mann an den alten Maschinen in Smethwick bei Birmingham; 80.000 Stück werden pro Jahr handgefertigt.

Am nächsten Morgen beim Start auf der kleinen Piazza sind jede Menge Exoten unterwegs. Damen mit langem Rock. Herren im Dreiteiler, Strohhut, Zigarre, Gamaschen. Ein Don Camillo im Priestergewand, drei Peppones mit Flinte. Eine Einheit der Schweizer Armee mit Stahlhelm, Tarnanzug und 27 Kilo schweren Rädern, die den Abwurf aus dem Hubschrauber aushalten müssen.

Ein Tour-de-France-Etappensieger von 1948. Der untrainierte Bürgermeister. Drei Freunde von Bartali. Der zahnlose 84-jährige Libero mit cooler Schiebermütze. Das wenig jüngere Unikum Luciano aus Livorno mit dem wie ein Rennlenker gebogenen Schnurrbart. Junge und Alte mit Schweißerbrillen, Sturzringen, Piratentüchern, den Ersatzschlauch um den Leib gewickelt.

Ein Halleluja zur Begrüßung

Endlich geht's los, es folgen wunderbare Stunden vor prima Kulisse, kein Zentimeter flach, nur hoch oder runter. Jedes Stück asphalto wird mit "Halleluja" begrüßt.

Viele schieben, manche gar bergab. Claudio, der Bürgermeister, bekommt Anschubhilfe. Senora Strucchi Prinetti fährt einen heißen Reifen. Die Schweiz müht sich im Zickzack bergauf. Don Camillo gibt auch bei der Pinkelpause ein gutes Bild ab. Und die Wolle kratzt fast gar nicht mehr. Die 200-Kilometer-Cracks mühen sich bis nach Montalcino.

An der Verpflegungsstation in Asciano, wo Salami, Pecorino, Dolci, Vino und die dicke Brotsuppe Ribollita gereicht wird, treffen wir vier ältere Herren aus Arezzo, wohlhabende Geschäftsmänner. Einer ist seit 40 Jahren New Yorker, aber zur "Eroica" immer da.

Demnächst nach Peking radeln

Letztes Jahr sind sie nach Athen geradelt, demnächst geht's nach Peking, westwärts, quer durch Amerika. Auch das deutsche Trio, das zum ersten Mal dabei ist und sich vorher noch alte Räder besorgt hat, hat viel zu erzählen.

Aber man sieht sich doch nachher beim Essen, nicht wahr? Klar, man sieht sich: an der langen Tafel, es gibt Pasta aus Papptellern, der Wein ist prima, und das Essen schmeckt so ganz anders. Irgendwie heroisch.

Informationen:

Anreise: Hin- und Rückflug mit Air Dolimiti bis Pisa oder Florenz (ab München: ab 240 Euro), weiter mit dem Auto über die A 1 Richtung Rom, Ausfahrt Valdorno

Unterkunft: Le Pozze di Lecchi, kleines 4-Sterne-Hotel etwas außerhalb, DZ ab 154 Euro.

L'Eroica: Startgeld: 15 Euro. Dafür gibt's noch Verpflegung, ein Essen nach dem Rennen und einen Ersatzschlauch. Dank der neuen Beschilderung kann man L'Eroica auch als Tourist nachradeln - ganz gemütlich, an mehreren Tagen. Infos unter www.parcociclisticodelchianti.it

© SZ vom 27. 10. 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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