Herculaneum:Die Spur der Steine

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In den Trümmern der Stadt Herculaneum, die vom Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde, ist bis heute das Alltagsleben der Vorzeit konserviert: Von den Nahrungsmitteln bis über die Krankheiten der Bewohner.

Hans Peter Kunisch

Am meisten überraschen zunächst diese vielleicht einen halben Meter hohen, klobigen Steine, die in größeren, regelmäßigen Abständen mitten auf der Straße stehen.

Herculaneum war, noch vor dem heute bekannteren Pompeji, der erste Ausgrabungsort nahe dem Vesuv. (Foto: Foto: ddp)

Überdimensionierte Bremser? Tempo Null auf der Via dell'Abbondanza, einer der zentralen Straßen Pompejis? Die Steine, das geht einem auf, und man kann es anschließend nachlesen, waren nicht als Hindernis gedacht. Für Fußgänger verbanden sie die Bürgersteige beider Seiten.

Unten, auf der Straße selbst, da lag oder schwamm auf dem breiten Kopfsteinpflaster der Dreck, da fuhren in den mehr oder minder vornehmen römischen Hafen- und Urlaubsorten die mit Menschen oder Waren beladenen Karren.

Deren Räder passten zwischen die Steine, die also eine praktische Mischung aus einer Brücke und der Ur-Form unserer Fußgängerstreifen bildeten, die man plötzlich als flache Abstraktion der Riesen-Kiesel erkennt.

War alles gleich oder ähnlich vor 2000 Jahren? Historiker ärgern sich gern, wenn Laien angesichts der wunderbar erhaltenen antiken Trümmer vom Stillstand der Zeiten reden. Manchmal verbergen sich die Unterschiede aber auch gut: Die Thermopolien etwa, die man in Herculaneum an einigen Straßenecken findet, waren zur Straße hin offene Garküchen mit breiten, steinernen Theken.

Keine warmen Küchen

Noch heute sieht man die tiefen, runden, in die Theke eingelassenen Hohlräume, in denen die dolia genannten Tonkrüge standen, in welchen die Gerichte aufbewahrt wurden. Garküchen brauchte es, weil man damals mittags auswärts aß.

In den Häusern der einfacheren Leute - das war anders als es heute ist - gab es offensichtlich keine warmen Küchen. Im Gegensatz zu den Reichen, wie etwa in der Herculaneser Villa dei Papiri zu sehen ist. Nach ihrem Vorbild wurde übrigens die Getty-Villa in Malibu nachgebaut.

Die Antikenbegeisterung erlebte einen ihrer Höhepunkte, als im 18. Jahrhundert Herculaneum entdeckt wurde. Sie setzte ein, als einer der berühmtesten Bauern der Kulturhistorie, Ambrogio Nucerino, 1710 in einem Ort, der damals Resina hieß, beim Graben eines Brunnens etwas entdeckte, das sich, Jahre später als die Bühne des besterhaltenen Theaters der Antike entpuppte.

Das Glück oder Unglück nahm seinen Lauf: Ein verbannter österreichischer Offizier französischer Herkunft, Emmanuel-Maurice de Lorraine, Prince d'Elboeuf, baute sich gerade in Portici eine Villa. Er hörte von Nucerinos Funden, kaufte das Gelände auf und förderte in einer dem klassischen Bergbau nachgebildeten Tunnel- und Stollentechnik, die einiges rettete und anderes zerstörte.

"Sanfte Harmonie"

Sie förderte auch jene "Dresdener" Herkulanerinnen-Statuen zutage, die man aus Johann Joachim Winckelmanns einflussreichen Aufzeichnungen kennt. Darin schwärmte er er von "edler Freiheit" und "sanfter Harmonie".

D'Elboeuf hatte die Statuen zuerst als Gunstbezeugung an seinen einflussreichen Vetter Eugen von Savoyen geschickt, nach dessen Tod waren sie an August III. Kurfürst von Sachsen und König von Polen gelangt.

Wer heute nach Herculaneum kommt, wird sich in der quirligen modernen Stadt kaum eine Villa am Meer bauen wollen. Ercolano, das 1967 wieder seinen alten Namen erhielt, zieht sich in ein paar lebendigen, eher schäbigen Parallelstraßen dem Wasser entlang und macht einen ziemlich bescheidenen Eindruck.

Man mag den einen oder anderen Sandstrand entdecken, doch er wird meist als Müllplatz und Treibgutdeponie dienen.

Kopien von Skeletten von Menschen, die beim Ausbruch des Vesuvs am 24. August 79 nach Christus in Herculaneum ums Leben kamen. (Foto: Foto: ddp)

Aber baden kann man schließlich woanders. Die Attraktion von Ercolano sind die Ausgrabungsstätten und die markante Nähe des Vesuv, an dessen Hängen Herculaneum und all die anderen Siedlungen unbelehrbarer Menschen liegen. Eine der oberen Parallelstraßen ist die Miglio d'Oro, an der sich zu Zeiten des Prinzen d'Elboeuf die damalige High Society ansiedelte.

Hier hat der Ingegnere Ferlaino, besser bekannt als jener Ex-Präsident des SSC Neapel, der Maradona in die Stadt am Golf holte, eine der riesigen alten Villen zum modernen Viersterne-Hotel mit respektablen Gartenanlagen umbauen lassen.

Siebzig Prozent des notwendigen Geldes, so der Vertreter der regionalen Tourismus-Behörde, habe die EU zugeschossen. Wobei das "Miglio d'Oro" wirklich etwas von einem Familienprojekt hat. Frau Ferlaino, die jahrelang für Gucci die Modepräsentationen organisierte, hat das Haus innen sehr Mailändisch eingerichtet: Viel Weiß und weniger Schwarz.

In den Zimmern nach hinten hinaus schaut man auf den wunderschönen Park. Und über allem thront der Berg.

Es muss schnell gegangen sein damals. Bis zu 200.000 Tonnen Magma pro Sekunde hat der Vesuv am 23. und 24. August des Jahres 79 n. Chr. ausgestoßen. Binnen Sekunden war auch das Leben in Herculaneum zu Ende.

Ein kleines, neun Meter langes Schiff sollte gerade zu Wasser gelassen werden, da wurde es von der, wie man sagt, "pyroklastischen Wolke" aus Gas, Magma, Lapilli und so weiter erfasst, die alles, was sich ihr entgegen stellte, auf mehr als 400 Grad erhitzte.

Die Menschen, die gerade das Boot besteigen wollten oder auf andere Schiffe warteten, wurden von der Wolke niedergedrückt, starben augenblicklich an einem Hitzeschock.

Doch vor diesem blitzartigen Ende gab es eine lange Phase der Unsicherheit. Der Vulkan war so unberechenbar wie es die starken Winde waren, die ihn umgaben. Bis zuletzt war nicht klar, welche Städte wann betroffen sein würden. Ein Skelett, das in Herculaneum gefunden wurde, hielt noch seinen Hausschlüssel in der Hand.

Man fand Kinder am Strand, sie waren getragen worden oder mussten selber gegangen sein. Nichts spricht für panische Hast. Sekunden vor dem Eintreffen der Feuersglut ahnte wohl keiner, was gleich geschehen würde.

Unter Gesteinsmassen überdauerte dieser Brotlaib aus dem antiken Herculaneum: Ein einzigartiges Zeugnis aus dem Alltag der Stadt. (Foto: Foto: Herculaneum Ausstellung)

In diesem Sinn ist auch das furiose Finale von Robert Harris' Thriller "Pompeji" realistisch. Harris, der für sein Buch ein Jahr lang recherchiert hat, wechselt in einer Serie von Cliffhangern von einem Schauplatz zum anderen. Während es in Stabiae noch ruhig ist, sieht man auf den Hängen Flammenfelder, die Menschen in Pompeji sind schon tot oder in Lebensgefahr.

In Misenum, dem heutigen Capo Miseno verfolgen Plinius der Ältere und sein Neffe das Schauspiel, das sie später beide beschreiben werden. Während der Ältere mit seiner Flotte hinausfährt, um zu helfen und das Schauspiel des Vesuv aus der Nähe zu betrachten, aber dabei schließlich umkommt, überlebt Plinius der Jüngere und kann, was er sieht und von anderen gehört hat, in einem Brief an Tacitus festhalten.

Anschaulich spricht er von der Wolke über dem Vulkan: "Ihre Gestalt lässt sich am besten mit einer Pinie vergleichen, sie hob sich nämlich wie auf einem sehr hohen Stamm empor und teilte sich dann in mehrere Äste. (...) Stellenweise war sie weiß, anderswo fleckig oder schmutzig, je nachdem ob sie Erde oder Asche mit sich führte."

Geschickt zieht Harris seinen Helden Attilius, den Wasserbaumeister der Augusta, der großen, von Kaiser Augustus eingerichteten Wasserleitung, die die ganze Region belieferte, aus einer unscheinbaren Stelle in Plinius' Bericht.

Als sein Onkel das Haus verlassen habe, so Plinius der Jüngere, "brachte man ihm eine Botschaft von Rectina, der Frau des Cascus, dessen Haus sich am Fuß des Berges befand, von wo aus man nur mit dem Schiff entkommen könne, und bat ihn, er möge sie doch aus der bedenklichen Lage befreien." Harris macht das winzige "man" des "Boten" der Erzählung zu seinem Helden, gibt ihm eine eigene Gesch ichte, die mit dem Vulkanausbruch verknüpft ist.

Attilius ist ursprünglich nur in die Gegend gekommen, weil etwas mit der Wasserqualität am Golf nicht stimmte. Plötzlich entdeckt er: Das Wasser ist schwefelhaltig, er forscht dem nach.

Dabei wird er in eine komplizierte Story verwickelt, die ihn mit dem freigelassenen Sklaven und neureichen Gangster Ampliatus und dessen Tochter Corelia zusammenführt. Immer näher kommt Attilius dem Kern von Ampliatus' Machenschaften, der das Wasser bislang viel zu günstig für sich und die Stadt abgezweigt hat.

Und natürlich verliebt sich der aufrechte Held in die Tochter seines Opponenten. Noch heute sieht man direkt bei der nördlichen Porta Vesuvio das Castellum Aquae, das Wasserschloss, das Zentrum der Wasserleitungen Pompejis, in dem Harris seine beiden Helden überleben lässt, denn von dort gelangen sie in einen unterirdischen Fluss, der sie rettet.

Obwohl Herculaneum der erste Ausgrabungsort war, den man in der Region des Vesuv entdeckte, gilt Pompeji heute noch als wichtigster antiker Fundort der Region. Das hat mit der Größe der ausgegrabenen Stadt zu tun, aber auch damit, dass Pompeji "nur" unter einer drei bis sechs Meter dicken Ascheschicht begraben war.

Auf Herculaneum lagerten bis zu 25 Meter Schlamm, der hart und zu Tuff geworden war. Das machte die Ausgrabungen ungleich schwieriger, aber, wie man erst seit 1982 in vollem Umfang begriffen hat, auch in vieler Hinsicht ergiebiger. Man war davon ausgegangen, dass sich die Bewohner Herculaneums hatten retten können.

1982 jedoch fand man am ehemaligen Strand in zwölf antiken Bootshäusern, deren runde Öffnungen den Besucher noch heute von der Meerseite her begrüßen, die Überreste von 250 Menschen, deren Knochen bis in die feinsten Verästelungen hinein erhalten waren.

Kopfläuse und Tuberkolose

Gipsabdruecke eines Erwachsenen und eines Kindes, die beim Ausbruch des Vesuvs in Herculaneum ums Leben kamen in der Ausstellung "Pompeji - Die Stunden des Untergangs". (Foto: Foto: ddp)

Seither kann man vieles genauer bestimmen. Erstaunlich etwa die Krankheiten, an denen die Herculaner litten. Die allermeisten Skelette, die man fand, hatten die Zivilisationskrankheit Karies, aber auch sehr oft Arthritis, obwohl unter 163 untersuchten Skeletten kein Mensch gefunden wurde, der zum Zeitpunkt seines Todes älter als 60 Jahre war, und nur 8,5 Prozent, die es über die 50 gebracht hatten. Nicht selten trat offenbar auch Tuberkulose auf.

Eine der häufigsten Krankheiten überhaupt hört sich schon wieder humoristisch an.

Etwa zweiundzwanzig Prozent der Untersuchten müssen unter dem Befall von Kopfläusen gelitten haben, was man, so der wunderbar vielseitige Katalog der gerade in München präsentierten Herculaneum-Ausstellung, "erosiven Veränderungen der äußeren Schädelplatte im Bereich des Hinterkopfs" entnehmen kann.

Auffällig auch die Zahl der Frauen, die keine Kinder geboren hatten, 32 Prozent, im Gegensatz dazu gab es eine größere Gruppe mit sechs bis acht Geburten.

Aber nicht nur über das Leben der Menschen erfährt man in Herculaneum in mancher Hinsicht mehr als in Pomepji. In Herculaneum haben sich auch organische Materialien erhalten, elegante Holzbalkone, wie es sie heute noch gibt, konnten rekonstruiert werden, eine massige Holzwiege.

Im heute verlorenen Obergeschoss der Villa des Argus wurde eine reichhaltige Speisekammer entdeckt, gefüllt mit Mehl und zum Backen vorbereiteten Brotlaiben, aber auch Terrakottagefäße, die Weizen, karbonisierte Hülsenfrüchte, Datteln, Feigen, Nüsse, Pinienzapfen, Mandeln enthielten.

Granatäpfel wurden gefunden, Knoblauch, Zwiebeln. An vielen anderen Orten fand man Fladenbrot, in einem Haus sechzig Kilo Gerste, 15 Kilo Bohnen. Aber auch ganz andere Materialien haben unter der 25 Meter dicken Tuffschicht die Zeiten überstanden.

In der mit Meer-Terrasse ausgestatteteten Casa dell'Albergo, die wohl auch wirklich als Hotel diente, fand man ein Stück von einem Fischernetz. Neben einem der Skelette am Strand lag ein Weidekorb mit Angelhaken, den man in Italien coffa nennt, ein Korbnetz, das noch heute zum Fischfang benutzt wird.

Herculaneum war keine raue Hafenstadt wie Pompeji mit seinem guten Dutzend Bordellen, mit seinem intensiven Handel. In Herculaneum, hat man herausgefunden, sind schon die Spuren der Wagen weniger tief. Doch je mehr man erfährt - die Ausgrabungen um die riesige Villa dei Papiri, deren Gebäude sich über 270 Meter erstreckt haben müssen, sind noch lange nicht abgeschlossen - desto mehr wird Herculaneum zur kleineren, feinen Schwester von Pompeji, die anderes zu bieten hat.

Das Schöne und vielleicht auf den ersten Blick Irreführende an beiden Städten bleibt, dass man an Ort und Stelle alles erahnen kann, weil so vieles erhalten ist. Ob auf den Ausgrabungsstätten oder in den Museen, in den einzelnen Häusern mit ihren Weinbergen, Gärten, den prunkvollen Mosaiken und den anfangs oft brutal aus den Wänden geschnittenen Gemälden.

Doch die Ruinen geben der Phantasie noch immer genug Raum und Anlass zum Flug. Wer einmal vor Jahren hier war und den Ort nur noch matt als viel zu heiß in Erinnerung hatte, der baut sich heute dort mit Vergnügen eine neue Stadt. Und direkt über der Villa dei Papiri liegen die bunten Kleingärten der Ercolaneser.

© SZ vom 3.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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