Gedrängel auf dem Jakobsweg:"Ruhe verdammt, wir sind doch Pilger!"

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Zigtausende pilgern auf den Spuren von Paolo Coelho und Hape Kerkeling nach Santiago de Compostela. Über die Wunder eines weiten Weges - und eine Heimsuchung.

Sebastian Schoepp

An der Tür der Herberge von Barbadelo steht ein Mann, der mit seinem schwarzen Bart und dem Wanderstock aussieht wie der heilige Jakob persönlich.

Er blickt hinaus und setzt einen ernsten Gesichtsausdruck auf: "Meine Damen und Herren", sagt er mit düsterer Stimme, "ich informiere Sie, dass da gerade die ganze Pfadfindertruppe anrückt."

Auf den erschöpften Gesichtern seiner Mitpilger, die ringsum auf Stockbetten sitzen und in ihren Rucksäcken nach Heftpflastern und Trinkflaschen kramen, macht sich Entsetzen breit. "Was, die Pfadfinder? - Oh Gott."

Wir hatten alles versucht, ihnen zu entkommen. Wir hatten an die harte Tagesetappe eine halbe drangehängt, um in dem kleinen, weniger frequentierten Pilger-Refugio von Barbadelo eine ruhige Zuflucht für die Nacht zu finden. Doch die Pfadfinderhorde hatte offenbar dieselbe Idee.

In den nächsten Minuten strömt eine halbe Hundertschaft Halbwüchsiger herein, die sich schreiend um die Betten balgen. Dasselbe Bild also, wie in der Nacht zuvor - und exakt das Letzte, was man braucht, wenn man 30 Kilometer staubigen Fußmarsch hinter sich hat.

Pilger in Überzahl - auf dem spanischen Jakobsweg ist das inzwischen normal. Noch vor 15 Jahren musste sich jeder, der von den Pyrenäen zum Grab des Heiligen Jakobus laufen wollte, fragen lassen, ob er dem religiösen Wahn verfallen sei. Und war das nicht in der Tat etwas für Masochisten?

Der Weg verlief damals noch vor allem auf Asphaltstraßen, man wurde angepöbelt und angehupt, verirrte sich dauernd und schlief in Ställen. Einer, der es schaffte, daraus so etwas wie Erleuchtung zu ziehen, war Paolo Coelho.

Sein Buch über die Wanderschaft nach Santiago de Compostela begründete seinen Ruf als Pilgervater zivilisationsmüder Sinnsucher.

Ähnlich wie Bergwandern, Dirndlmode und andere Dinge, die früher als öder Traditionskram galten, hat der Jakosbweg seitdem eine Umwidmung zum Massenspektakel erfahren.

20.000 Pilger gingen ihn 1995, zehn Jahre später waren es fast 100.000. In Heiligen Jahren, wenn der 25. Juli, der Festtag von St. Jakobus, auf einen Sonntag fällt, sind es doppelt so viele.

Selbst unter den fußfaulen Spaniern ist der Camino de Santiago enorm populär, sie stellen die Hälfte der Wanderer, gefolgt von den Deutschen.

Sie können inzwischen auf eine lückenlose Infrastruktur an Herbergen bauen. Ryanair bietet Flüge nach Santiago ab 14,74 Euro an. Wer aus der Vielzahl an organisierten Pilgerfahrten auswählen will, fühlt sich wie an der Sandwichtheke bei Subways: Es gibt Einzel- und Gruppenreisen, etappenweise oder komplett, mit oder ohne Begleitbus, dazu Spiritualität und Kunsthistorie in allen Abstufungen.

"Der Weg stirbt an seinem Erfolg", sagt Jochen Schmidtke vom Paderborner Freundeskreis der Jakobspilger. "Das einsame Wandern gibt es kaum mehr." Man balgt sich um die Betten, muss sich vor Dieben hüten und sich über Herbergsschnorrer und Minimalpilger ärgern, die vor allem auf den letzten 100 Kilometern alle Schlafplätze belegen.

Es sei rücksichtsloser geworden, sagt Schmidtke, der selbst in der Casa Paderborn, einer Pilgerherberge in Pamplona, ausgeholfen hat. Da wurde er schon mal im Unternehmensberaterton angeherrscht, er solle gefälligst auf die Rucksäcke achtgeben, wenn die Pilger die Stadt erkundeten, sonst werde man ihn haftbar machen.

So kommen Sie nicht vom rechten Weg ab. (Foto: SZ-Grafik: Mainka)

Schmidtke sagt: "Die Leute sprechen von Entschleunigung und gehen dann 38 Kilometer am Stück." Ein Beleg, dass man auch als Pilger nicht vor sich selber weglaufen kann.

Stark befördert haben die Popularität Promi-Pilger wie Coelho, Shirley Mac- Laine und zuletzt Hape Kerkeling. Veteranen schwören, sie würden nie mehr den Jakobsweg gehen, wenn man Gefahr laufe, dort solchen Leuten zu begegnen.

Dabei kann man Kerkeling nach der Lektüre seines Buches "Ich bin dann mal weg" als typischen Jakobspilger unserer Zeit bezeichnen: Er wandert auf einem diffusen religiösen Fundament, hat keine Vorstellung von den eigenen Kräften, beginnt quengelig und fällt im Laufe des Wegs einer selbstfinderischen Entrücktheit anheim. Am Schluss hat man ihn fast lieb. Der Weg bewirkt Wunder.

Bars, Hostals, Geschäfte

In der Tat laufen die wenigsten mit dem Gefühl los, Pilger zu sein. Aber fast jeder spürt, dass er hier dazu wird. Wer den Weg jedoch verlässt, etwa um eine Etappe mit dem Bus zu überspringen, fühlt sich plötzlich wie ein Hühnerdieb - und wird auch so behandelt. Der Respekt, den Einheimische Pilgern entgegenbringen, erlischt, wenn einer betrügt. Wer aber auf dem Weg bleibt, wird von alten Mütterchen umarmt und bekocht.

Der Jakobsweg hat der ganzen Region Aufschwung gebracht. "Wo früher ein Bauer und eine Kuh waren, boomt es heute: Bar, Hostal, Geschäfte", sagt Werner Alferink, Präsident der Fränkischen St.-Jakobus-Gesellschaft.

Der Weg wiederholt so seine Geschichte.

Im Mittelalter wurde er von der Kirche propagiert, um das nördliche Spanien mit Christen zu besiedeln, das man kurz zuvor den Mauren abgenommen hatte. In diesem Sinne hat auch der Heilige sein Antlitz verändert.

Früher wurde Jakob als matamoros, als "Maurentöter" mit Lanze dargestellt. Heute zeigt man ihn als lieben Pilgeropa mit Jakobsmuschel, der die Wanderer ans Ziel und zu sich selbst geleitet.

Die Kräfte des Heiligen überschätzen dabei viele.

Es sei unglaublich, was manchmal für Leute auftauchten, berichtet Jochen Schmidtke: Alte, Schwache, Kranke, einmal kam eine Frau, die gerade eine Transplantation überstanden hatte.

"Und den Rucksack voll mit überflüssigem Zeug: Riesenflaschen Duschgel, 300-Gramm-Tuben Zahnpasta, Frotteehandtücher!"

"Acht Stunden laufen bei 35 Grad Hitze - ich wusste vorher nicht, ob ich das schaffen würde", sagt auch Harald Zimmermann aus Baldham bei München. Der 41-Jährige wanderte nach Santiago, weil er seit einem Autounfall mit einem gelähmten rechten Arm lebt: "Ich bin dankbar, dass es nicht die Beine waren und ich gehen kann - also wollte ich wissen, wie weit ich komme."

Das Gewimmel habe ihn nicht gestört: Jeder auf dem Weg habe seine Geschichte, das habe etwas Einendes. "Ich wusste, da sind Tausende gegangen, die haben hier ihre Träume, Ziele, Verzweiflung und Hoffnung reingetreten. Damit lädt man sich auf."

Und für die, die Einsamkeit suchen, gibt es Varianten: den Camino del Norte, der der Küste folgt, oder die Silberstraße von Sevilla nach Santiago.

Die allerdings seien lang und hart, warnt Schmidtke, "etwas für Fortgeschrittene".

Oder für Leute, die Jugendgruppen schlimmer finden als sengende Sonne: In Barbadelo krakeelen die Teenager so lange, bis der Mann mit dem schwarzen Bart von seinem Stockbett springt und brüllt: "Ruhe verdammt, wir sind doch Pilger!"

Ein Blitz durchzuckt seine Augen, als könne er, wenn auch keine Mauren, so doch zumindest ein paar Pfadfinder töten.

Zu überfüllt, um zur Ruhe zu kommen? Oder ein anregender Austausch mit den anderen Pilgern? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen auf dem Jakobsweg!

© SZ vom 3.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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