Entdeckungen in Erfurt, Jena und Weimar:Lauter Genies

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Goethe, Bauhaus, Blechkuchen: Durch die historische Kleinstaaterei in Thüringen entstand ein Wettbewerb, der bis heute vorteilhaft wirkt - für die Kultur wie für die Kulinarik. Eine interessante Melange.

Von Viola Schenz

Beginnen wir mit Wichtigem - Kuchen nämlich. Eine Reise durch Thüringen ist quasi bedeutungslos, wenn man sich nicht durch seine zahlreichen Blechkuchensorten futtert. Die Grundlage ist meist Hefeteig, darauf kommen in diversen Kombinationen und Mischverhältnissen Quark, Obst, Mohn, Streusel, Eigelb und Butter. Traditionell bäckt man sie auf großen runden Blechen. Warum sie rund sind, weiß man nicht genau, wahrscheinlich waren sie früher in den handbefeuerten, ungleichmäßig heizenden Öfen leichter zu drehen. Bei größeren Familienfesten galt es, die Gäste mit mindestens 20 Sorten zu beeindrucken - was natürlich bedeutete, dass die Frauen des Hauses die halbe Nacht Teig kneten und belegen mussten. Serviert wurde das süße Flachwerk in mundgerechten Stückchen - die einzige Chance, alle Kuchenarten zu probieren.

Leider gibt es diese Darreichungsform fast nur noch bei Privatveranstaltungen oder auf Wochenmärkten. Konditoreien und Cafés sind inzwischen auf die handelsüblichen Einzelgrößen umgestiegen. So bleibt es dann meist bei einer Art. Aber wie ein Café in Erfurt im Schaufenster sehr richtig plakatiert: "Kein Kuchen ist auch keine Lösung."

Beim Backen herrscht reger Wettbewerb zwischen Thüringens Städten und Regionen. Jena ist stolz auf seinen Propheten- oder Huckelkuchen, der sich fertig gebacken wie eine Hügellandschaft wellt. Erfurt besteht darauf, mit seinem "Schittchen" den wirklichen Stollen ins Leben gerufen zu haben, noch vor Dresden jenseits der Landesgrenze. Ähnlich verhält es sich mit den berühmten Kartoffelklößen: Jedes Dorf reklamiert das beste Originalrezept. Auch würde jeder Erfurter bestätigen, dass es die beste Rostbratwurst nur dort gibt, in der Landeshauptstadt, und den mittelscharfen Senf obendrein. Jenenser (so dürfen sich in Jena Geborene nennen, bloße Bewohner heißen Jenaer) bestreiten das freilich.

Über Jahrhunderte setzte sich Thüringen aus vielen kleinen Landgrafschaften, Fürsten- und Herzogtümern zusammen. Glücklicherweise war den meisten dieser Miniatur-Herrscher klar, dass sie keine Chance hätten, erfolgreich Kriege zu führen oder gar Territorien zu erobern. So steckten sie das Geld, das sie ihren Untertanen abknöpften, weniger in Waffen und Heere als in Kultur und Kunst. Den Fürsten von nebenan mit einem höheren Kirchturm, einem berühmteren Denker bei Hofe zu übertrumpfen, darum ging es. Natürlich geriet so viel militärische Schwäche zwischenrein auch zum Nachteil, der sich aber im Nachgang wiederum als Glücksfall erweisen konnte: Als etwa Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige 1547 eine Schlacht gegen Kaiser Karl V. verlor und damit auch Kursachsen und die Universität Wittenberg, gründete er in Jena mal eben eine neue Universität. Friedrich Schiller hielt dort 1789 seine Antrittsvorlesung, heute ist die renommierte Friedrich-Schiller-Universität mit ihren gut 18 000 Studenten die größte des Landes und der größte Arbeitgeber der Stadt.

Die Thüringer Kleinststaaterei und ihr Eifertum brachten Vorteile. Man sieht es allein am Messingschilderwettbewerb der Städte und Hauseigentümer. An etlichen Fassaden weisen sie darauf hin, welche Geistesgrößen dort einst gewirkt, gelebt oder zumindest kurz gewohnt haben: eine Tour du Genie von Schiller, Luther, Goethe, Wagner, Bach, Nietzsche, Zeiß oder Wieland. So lockte der Weimarer Herzog Carl August Goethe in seine Stadt, später folgten Schiller und Herder. Die Förderung wirkte lange nach. Walter Gropius gründete 1919 die Architektur- und Designwerkstatt Bauhaus in Weimar; als der Landtag die Staatsgelder stoppte, zog er 1925 weiter nach Dessau.

Bis heute herrscht der regionale Wettstreit - und das ist gut für Kultur, Wissenschaft und Tourismus. So reklamiert Weimar natürlich für sich, mit dem Schiller- und Goethehaus die Hauptstadt der deutschen Klassik und deren geistiges Zentrum zu sein, außerdem haben Brahms, Wagner, Herder und Nietzsche dort gelebt. Die schönste Stadt Thüringens sei es sowieso, sagen die Weimarer. Den Titel jedoch macht ihnen Erfurt streitig: Die Landeshauptstadt punktet mit ihrem restaurierten mittelalterlichen Stadtkern, den vielen Klöstern und Kirchen, dem Dom und seinem Chorgestühl aus dem 14. Jahrhundert und den Glasmalereien. Und man muss sich ranhalten, will man noch am selben Tag auch die St.-Severi-Kirche gleich daneben besichtigen, die wunderschönen Bürgerhausfassaden, die Alte Synagoge, Luthers Wirkungsstätten und die vielen kleinen Läden und Cafés auf der Krämerbrücke erkunden, auf der längsten komplett mit Häusern bebauten Brückenstraße Europas. Weiter südlich lädt Rudolstadt ebenfalls dazu ein, sich auf die Spuren von Goethe und Schiller zu machen - diesmal in romantisch verwinkelten Gassen.

Jena ist stolz auf seine Universität und versteht sich als das Wissenschafts- und Forschungszentrum, aber auch als die andere Klassikerstadt, die neben Dichtern, Philosophen und Komponisten auch Vertreter anderer Disziplinen anzog: den Mechaniker und Unternehmer Carl Zeiß, den Physiker, Optiker und Sozialreformer Ernst Abbe, den Glastechniker Otto Schott. Vielleicht ist die Stadt auch ein klein wenig stolz auf den JenTower, das mit 144 Metern höchste Bürogebäude der neuen Bundesländer, fertiggestellt 1972. Es soll ein Fernrohr darstellen, aber die Jenenser nennen es stur Keksrolle. Man weiß nicht, ob man Walter Ulbricht für seinen Beschluss, dieses Ungetüm errichten zu lassen, verfluchen oder ihm im Gegenteil danken soll - wegen des Rundblicks, den man von der Plattform in der aufgestockten 29. Etage über Stadt und Saaletal hat. Einen Vorteil jedenfalls hat das Monstrum: Ganz oben im Hotelrestaurant wird Blechkuchen in mundgerechten Stückchen kredenzt.

© SZ vom 21.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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