Deutschland:Käffer gucken

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In Niedersachsen fährt der älteste deutsche Museums-Dampfzug. Passionierte Eisenbahner spielen hier Reisen wie vor 100 Jahren.

Von Günter Beyer

Alles dreht sich hier um die Eisenbahn, sogar der Autoverkehr: In der Ortsmitte von Bruchhausen-Vilsen thront unübersehbar die Dampflokomotive Bruchhausen auf dem Verkehrskreisel. Autos, Fahrräder, Fußgänger - alle umkreisen die in stoischer Ruhe erkaltete Lok.

Mit der grün-schwarz-rot lackierten Bruchhausen fing 1900 eine neue Zeit an. Sie und vier baugleiche Lokomotiven schlossen die von Getreideanbau, Milchwirtschaft und Schweinezucht geprägte hügelige Geest mitten in Niedersachsen per Kleinbahntrasse an den Rest der Welt an. Die Bruchhausen hielt durch, bis die Strecke in den 1960er-Jahren stillgelegt wurde. 1966 ging der Betrieb weiter als Museumsbahn - aber bald ohne die Bruchhausen. Die Hauptuntersuchung war fällig, und der noch junge Museumsverein konnte sie nicht bezahlen. So wurde die Lok zum Denkmal.

Vom Verkehrskreisel sind es nur ein paar Schritte zum Bahnhof, dem Herzen der "Ersten Deutschen Museumseisenbahn". Bruchhausen-Vilsen ist ein sehr ruhiger Ort. Aber an den Wochenenden von Mai bis Oktober belebt er sich. Dann steigt weißer Qualm auf, die Zunge schmeckt feine Rußpartikel. Fauchend steht eine Dampfeisenbahn abfahrbereit am Gleis.

Im Bahnhofs-Dienstzimmer mit 60er-Jahre-Interieur sitzt Zugleiter Manfred Nordloh am Schreibtisch. Der ehemalige Bahn-Mitarbeiter trägt eine preußischblaue Eisenbahner-Uniform. "Wer sich einmal den Museumsbahn-Virus eingefangen hat, wird ihn nicht wieder los", sagt er. Der Verein hat 1200 Mitglieder, wer aktiv mitarbeitet, erhält eine richtige Ausbildung im Fahrdienst, im Gleisbau oder in der Werkstatt. Am Ende der Lehrzeit steht eine Prüfung. Lohn gibt es keinen. Auch Nordloh arbeitet ehrenamtlich.

Ein paar Kilometer Nostalgie: mit Volldampf unterwegs. (Foto: Toma Babovic/laif)

Am Schalter werden Fahrausweise verkauft, kleine Tickets aus dicker Pappe, auch für Kind, Hund, Fahrrad und Gepäck. Nach Heiligenberg, Asendorf? Einfache Fahrt oder hin und zurück? München gibt's nicht. "Wir sind keine DB-Agentur", sagt Vereinspressesprecher Bernd Furch beinahe trotzig. Während seiner Bundeswehrzeit in Oldenburg war er auf die Museumsbahn gestoßen. Seiner Leidenschaft zuliebe reist er von weit an; mit dem Auto, wie er zugibt.

Nicht nur die Dampfeisenbahn selbst, auch das Bahnhofsgelände bedient nostalgische Sehnsüchte: Das Stationsgebäude ist von 1900, die Fahrziele werden auf schwenkbaren Blechschildern angezeigt. Bruchhausen-Vilsen ist ein sogenannter Gemeinschaftsbahnhof. Hier treffen die Normalspur nach Syke und Hoya, auf der gelegentlich der Touristenzug Kaffkieker verkehrt, und die Schmalspur nach Asendorf zusammen. Etliche Schienen haben deshalb nicht zwei, sondern drei Gleisstränge und können mit beiden Spurweiten befahren werden.

(Foto: Grafik)

Besucher spazieren zwischen den Gleisen umher und sehen sich die einfache, sinnfällige Mechanik an: Mit Hilfe sogenannter Rollböcke konnte die Schmalspurbahn früher zweistöckige Schweinetransportwaggons der Normalspur huckepack nehmen. Das Umladen der Tiere entfiel.

Zugführer Jürgen Werder läuft unzufrieden am Bahnsteig entlang. Die kleine Lok Franzburg vor dem langen Büfettwagen aus der Schweiz? "Das sieht doch nicht aus!" Doch heute muss improvisiert werden, die eigentlich vorgesehene Dampflok hat tags zuvor schlapp gemacht, von hinten schiebt nun zusätzlich eine kleine Diesellok. Resignierend hebt Werder die Kelle. Pünktlich setzt sich der Zug mit Pfeifen und Fauchen in Bewegung. Man spürt in der Magengrube jeden Schienenstoß. Im Büfettwagen werden Kaffee, Kuchen oder Bockwurst serviert. "Manche Gäste kommen jedes Wochenende nur wegen des Büfettwagens", sagt der Mann am Tresen.

Dass Deutschlands erste Museumseisenbahn vor fast 50 Jahren ausgerechnet in Bruchhausen-Vilsen unter Dampf kam, ist eine schöne Geschichte von privatem Engagement und der Suche der Gemeinde nach einer Attraktion. In den 1960er-Jahren schafften immer mehr Menschen ihr eigenes Auto an, überall wurden Eisenbahnstrecken stillgelegt, Züge verschrottet. Das rief eine Gruppe von Hamburger Bahnenthusiasten auf den Plan.

Sie gründeten 1964 den Deutschen Eisenbahnverein (DEV). "Wir wollten den Leuten zeigen, wie man früher auf dem Land gereist ist", sagt der 80-jährige Vereinsgründer Harald Kindermann. Als Ruheständler hat er bei Kilometer 0,9 sein Haus im Stil eines niedersächsischen Kleinbahnhofs gebaut. Dort, in Vilsen Ort, hält der Zug natürlich. Der DEV wollte keine Fahrzeugschau in einer Halle, sondern ein lebendiges, fahrendes Museum. 1966 wurde man in Bruchhausen-Vilsen fündig: Dort sollte gerade die acht Kilometer lange Strecke nach Asendorf stillgelegt werden. Heute besitzt der Verein sechs Dampfloks, etliche Dieselfahrzeuge sowie Dutzende Waggons. Die Werkstätten in Bruchhausen-Vilsen sind Lokschuppen und Atelier des Vereins. Waggons, verkommen zum bloßen Gerippe, warten ebenso auf die Instandsetzung wie die 104 Jahre alte Lokomotive Hermann, die einen neuen Kessel braucht.

Der 16-jährige Karl Alms kommt öfter nach der Schule vorbei. Heute werkelt er mit anderen jungen Leuten an Hermanns Antriebsstangen. "Das macht Spaß, weil man hier mit Freunden was tun kann", sagt er. Dass das Eisenbahnfieber auch Jüngere packt, ist nicht selbstverständlich. Nicht alle der hundert Museumsbahnvereine in Deutschland schaffen es, Jugendliche an sich zu binden, sagt Johannes Füngers, zweiter Vorsitzender des Verbands deutscher Museums- und Touristikbahnen. Altgediente Eisenbahner brächten nicht immer die Geduld auf, Jugendlichen etwas beizubringen. "Geht schneller, wenn ich es selbst mache", wehrten sie ab.

Mehr und mehr ist der DEV dazu übergegangen, nicht bloß Technik von gestern, sondern ein umfassendes historisches Eisenbahnerlebnis anzubieten. Da bringt Harald Kindermann in tadelloser Uniform mit einer Schubkarre eine Kiste ans Gleis: "Eilige Arzneimittel für Asendorf"! ruft er, wie das eben vor Jahrzehnten war. Für Foto- und Videofreunde werden spezielle Fahrten angeboten. Dann hält die qualmende Bahn an besonderen Abschnitten. In einem mit rotem Samt ausgeschlagenen Salonwagen finden Trauungen statt, eine Standesbeamtin steigt zu.

Für die Kommune Bruchhausen-Vilsen ist die Museumsbahn ein Erfolg, der noch um etliche Kapitel fortgeschrieben werden soll. Christa Gluschak, bei der Gemeinde zuständig für Förderprogramme und Nahverkehr, spricht von "Synergieeffekten"; die Museumsbahn und andere touristische Angebote bestärkten sich gegenseitig. Zu Saisonbeginn hat das direkt an der Trasse gelegene Gartenbahncafé "Volldampf" in einem nachgebauten sächsischen Gepäckwaggon eröffnet. Kaffee, Kuchen und Bier werden hier per Modellbahnexpress zugestellt.

An der Strecke des Kaffkiekers haben Bahnbegeisterte einen vor Jahren ausgebrannten Bahnhof vor dem Abriss bewahrt. Der Ostbahnhof am Maidamm war einst Bedarfshaltestelle. "Hier wurde aber nie mehr angehalten", sagt die Initiatorin Reina Fuchs. Das soll sich ändern. Finanziert mit Genossenschafteranteilen und viel Eigenarbeit wollen Fuchs und ihre Mitstreiter aus der Ruine innerhalb von zwei Jahren ein Hotel Garni mit sechs Zimmern machen. Der Frühstücksraum wird im Stil einer Bahnhofskneipe eingerichtet. Einen zugkräftigen Namen gibt es auch schon: Obama - Ostbahnhof am Maidamm.

© SZ vom 11.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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