Berge:Unter Wilden

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Die Oberreintalhütte bei Garmisch hat nichts von dem, was die meisten Wanderer von Hütten heute erwarten. Gut so.

Von Malte Roeper

Es gibt keinen Festnetzanschluss, das ist schon mal eigenwillig genug. Die Handynummer von Hüttenwart Hans Bader bekommt man nur über einen Mittelsmann, dem man hoch und heilig versprechen muss, sie niemandem weiterzugeben. Und Bader verneint auch prompt die Frage, ob er zumindest seine E-Mails täglich beantwortet: "Neunzig Prozent der Leute wollen eh nur reservieren, dabei steht alles auf der Homepage." Und wie er es mit den Reservierungen handhabt, ist da gleich am Anfang zu lesen - außer für Gruppen gibt es keine: "Die Oberreintalhütte ist noch eine ursprüngliche Hütte und kein Hotel, wer kommt, ist da und herzlich willkommen."

Allein schon damit wirkt diese Hütte in Zeiten des App-gesteuerten Alpintourismus wie ein gallisches Dorf. Es gibt keine Einzelzimmer, nur Matratzenlager, und wenn die Sonne scheint und den entsprechenden Apparat aufwärmt, kann man warm duschen. Sonst eben nicht. Eine Speisekarte, von der man Essen bestellen kann, gibt es auch nicht, nur die übliche Palette von Getränken. Der Bader Hans ist, erklärt er mit einigem Stolz, nämlich Hüttenwart, nicht -wirt. Selbstversorgerhütte heißt dieses aus der Zeit gefallene Konzept für eine Zielgruppe mit traditionell kleinem Budget: Kletterer.

Unter Wanderern, die oft mehr Komfort beanspruchen, gab es schon welche, die sich hinterher schriftlich beschwert haben, weil sie kein Essen bestellen konnten. Deswegen verkauft der Hans nicht einmal Nüsse oder Kekse: "Stell dir den Ärger vor, wenn dann auch noch aus ist, was auf der Preisliste steht!" Dass jedenfalls keine Bedienungen herumsausen - das Bier nimmt man sich selbst, die anderen Getränke bringt der Wart - trägt zu der tiefenentspannten Stimmung rund um den kleinen Bau sicherlich bei. Zwischen grasenden Schafen sortieren junge Burschen ihr Klettermaterial, während auf dem Gaskocher Spaghetti köcheln. Hinter dem Haus hängt ein Sonnensegel über ein paar Biertischen, Wanderer spielen Karten mit einem Bergführer und seinem Gast. Bergahorne wachsen märchenschön, als wären sie Kulisse aus einem Fantasy-Film. Sie wurden von früheren Hüttenwarten gepflanzt und verschieben in Folge der Erwärmung ihr Areal langsam nach oben.

Auch Kletterer reisen heutzutage viel und weit, natürlich wegen der Felsen und nicht wegen des Quartiers. Hier aber kommen sie auch wegen der Hütte. In der Gemeinde ist die "Oberreintal", auf 1525 Metern im Wettersteingebirge gelegen, trotz der spartanischen (jedoch allzeit herzlichen) Bewirtung Kult. 1921 errichtet und trotz mehrfacher Um- und Anbauten mit 60 Übernachtungsplätzen klein und heimelig geblieben, schmiegt sie sich in eine sattgrüne Bergwiese, hinter und über sich eines der schönsten Klettergebiete der Ostalpen: Von 300, 400 Meter langen Klassikern aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren über Sportkletterrouten in allen Schwierigkeitsgraden bis zum Klettergarten ist fast alles geboten, was das Klettererherz begehrt. Diese Bergfahrten sind nicht die größten und wildesten mit Gletscherzustieg im Morgengrauen und derlei ungemütlichen Zutaten, sondern - entsprechendes Können vorausgesetzt - eine gut verdauliche Dosis Abenteuer. Ausschlafen, gemütlich zum Wandfuß bummeln und reichlich vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein - das sind hier die Rahmenbedingungen. Und der feste, griffige Wettersteinkalk gilt als Delikatesse unter Feinschmeckern der Vertikalen. Fels ist ja nicht gleich Fels.

Anfang des vergangenen Jahrhunderts etablierte sich der kleine Talkessel als einer der beliebtesten Kletterorte der Werdenfelser und Münchner Bergsteiger, die für ihre Wochenendausflüge ein Quartier brauchten. Für Fußgänger freilich bildet das Tal eine Sackgasse, der einzig wanderbare Weg führt wieder nach unten. Folglich blieb dieser an sich leicht zu erreichende Stützpunkt immer Szenetreff; man war und ist unter sich. Die Jungen von heute sitzen auf denselben Bänken, ihr Bier steht auf denselben Tischen wie schon bei Eiger-Nordwand-Erstdurchsteiger Anderl Heckmair und all den mythenumrankten Arbeiterbergsteigern der Dreißigerjahre, die mit zentnerschweren Fahrrädern, Nagelschuhen und bedingt reißfesten Hanfseilen unterwegs waren.

Der unermüdliche Expeditionsvagabund Stefan Glowacz hat hier ebenso trainiert wie die junge Laura Dahlmeier, die sich für ihre Kletterleidenschaft auch als Weltmeisterin im Biathlon regelmäßig Zeit nimmt. Keiner von ihnen war oder ist sich zu schade, sein Essen selbst heraufzutragen. Man kann die Hütte auch als Deutschlands schönste und wildeste Jugendherberge deuten, als eine Art Schullandheim der kletternden Jugend aus dem Garmischer Raum, die hier vor der Haustür seit dem Bau der Hütte vor fast 100 Jahren ihren großen Abenteuerspielplatz hat.

Geld verdient die Alpenvereins-Sektion Garmisch-Partenkirchen als Eigentümerin nicht mit der Hütte, das Konzept jedoch steht nicht infrage. "Klar ist das ein Zuschussgeschäft", sagt Schatzmeister Antonius Paulus, "aber es ist ja unser ureigenster Vereinszweck, der Jugend das so zu ermöglichen." Größere Investitionen wie die teure UV-Trinkwasser-Entkeimungsanlage muss deshalb die Sektion zahlen, auch wenn das Schmelzwasser aus dem Hochgebirge mutmaßlich nur wenig Keime enthalten dürfte. "Vorschrift ist halt Vorschrift", sagt Antonius Paulus und seufzt, "da müssen wir durch."

Die Hütte hat nur in der Klettersaison geöffnet, was den Bedarf an Brennholz in einem überschaubaren Maß hält. Bis jetzt hat sich traditionell die Jungmannschaft um das Holz gekümmert, unten im Reintal tote, schon durchgetrocknete Bäume klein geschnitten und in Meterstücke gespalten am Abzweig zum Hüttenaufstieg deponiert. Wer dann zum Klettern hinaufging, nahm immer ein Stück mit, ein Holztransport wie auf einer Ameisenstraße. Weil aus Gründen des Naturschutzes nun kein Totholz mehr entnommen werden soll, könnte es passieren, dass das Brennholz in Zukunft von anderswo per Hubschrauber heraufgeflogen werden muss. "Nur weil die alte Methode umweltfreundlich war, können wir nicht automatisch eine Ausnahme verlangen", meint Paulus. "Wir arbeiten intensiv an einer Lösung."

SZ-Karte (Foto: SZ-Grafik)

Die größte Legende im traditionsreichen Oberreintal ist übrigens kein Bergsteiger, sondern der ehemalige Hüttenwirt Franz Fischer, nach dem die Hütte eigentlich einmal umbenannt worden war. Da aber in Österreich schon eine andere Hütte gleichen Namens existiert, hat sich das nicht recht durchgesetzt, was der Verehrung des Fischer Franz aber keinen Abbruch tut. Über ihn gibt es, geschrieben von Charly Wehrle, einem seiner Nachfolger, auch das sehr schöne Buch "Bergsteiger ohne Maske".

Der Mann kletterte jedenfalls eines Tages in den Dreißigerjahren eine schöne, wilde Tour in den Wänden dort oben und tat am Ausstieg vor lauter Freude einen Schrei: "Hei, mi leckst am Arsch!" Und weil Anderl Heckmair nebenan ebenfalls gerade ausstieg, rief er fröhlich zurück: "Du mi aber aa!" Damit, so will es die Legende, war der bis heute gültige Slogan, Gruß und Schlachtruf des Oberreintals geboren: "Hei, mi leckst am Arsch!" Es gibt sogar Leute, die ihre Briefe und E-Mails mit der Kurzform "HmlaA" unterzeichnen. Der Spruch steht liebevoll geschnitzt auf der Bank vor der Hütte. Da sitzt man auch als Wanderer sehr bequem.

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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