Am Ganges:Die Göttin aus dem Kuhmaul

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Auf einer Reise von der Quelle bis zur Mündung des heiligen Flusses zeigen sich Schönheiten und Fratzen Indiens.

Rainer Kellers

Wenn die Götter Kulissenschieber spielen, entstehen Orte wie diese. Eingerahmt von turmhohen Bergen und schneeverkrusteten Gipfeln öffnet sich der Talkessel des Gangotri. Wie eine gefrorene Zunge zwängt sich der Gletscher zwischen die Zähne des Gebirges. Linkerhand ragt die Wand der Bhagirathi-Gruppe senkrecht in den Himmel, ein wuchtiger Drillingsgipfel von 6800 Metern Höhe.

Zur Rechten thront Shivling, schön wie das Matterhorn. Und am Fuße des Gletschers, in einer eisigen Höhle 4000 Meter über dem Meeresspiegel, entspringt ein klarer Wasserlauf. Es ist der Ganges, Indiens heiligster Strom.

Narendra bleibt ehrfürchtig stehen, als er die Quelle erblickt. "Sei gegrüßt, Ma Ganga", flüstert er. Der zähe Bergführer aus Uttarkashi hat zwar schon häufig Pilger und Touristen zum Gaumukh geleitet, dem Kuhmaul, wie der Ursprung des Ganges genannt wird.

Doch jedes Mal aufs Neue ist er überwältigt vom Anblick der Geburt einer Göttin. Für einen Hindu ist Ganga, "das liebliche Mädchen des Himmels", die einzige Gottheit, die für jeden sichtbar auf Erden weilt.

Es knirscht und knackt in den Tiefen des gigantischen Eisblocks. Narendra wirft einen prüfenden Blick zur Abbruchkante. Risse durchziehen die Stirnseite.

Eine Scholle von der Größe eines Elefanten sieht aus, als würde sie jeden Moment in die Tiefe stürzen. Vor einigen Jahren starben mehrere Pilger, als die gesamte Front des Gangotri unversehens in sich zusammenbrach. Narendra jedoch ist vorsichtig. Niemand, der mit ihm zum Gaumukh steigt, darf nahe an den Gletscher heran. "Man weiß nie, wen der Berg bestrafen will", sagt er und kniet sich neben den heiligen Fluss.

Er spricht ein Gebet und wirft als Opfer eine Banane hinein.

Aus den eisigen Weiten des Himalaya fließt Ganga hinab in die Ebenen. Sie springt über Klippen, eilt über Stromschnellen hinweg und stürzt schäumend in die Tiefe. Andere Flüsse vereinigen sich mit ihr. Und als Ganga bei Haridwar die Berge verlässt, ist ein mächtiger Fluss aus ihr geworden.

Behäbig strömt sie nun in einer weit ausholenden Kurve durch den Nordosten Indiens nach Süden. Vorbei an hundert Städten und unzähligen Dörfern führt der Weg zweieinhalbtausend Kilometer lang durch die Herzlande Indiens. Nicht weit von Kalkutta verzweigt sich Ganga in ein unüberschaubares Geflecht von Hunderten, vielleicht auch Tausenden Mündungsarmen.

Im größten Flussdelta der Welt ergießt sie sich schließlich am Golf von Bengalen in den Indischen Ozean.

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Und es lohnt sich, hier und da innezuhalten. Zum Beispiel in Rishikesh. Die "Hauptstadt des Yoga" liegt knapp 300 Kilometer hinter der Gangesquelle in einem von bewaldeten Bergen eingeschlossenen Tal. Das lärmende Zentrum der 100.000-Einwohner-Stadt ist ein einziger, hektischer Basar.

Ganz anders die nördlichen Stadtteile.

Vielstöckige Ashrams mit Türmen, Erkern und Balkonen klammern sich hier zu Dutzenden in die Felsen. Hängebrücken, die sogar für Rikschas zu eng sind, verbinden die beiden Flussufer. Auf Hotelterrassen hocken Touristen im Lotussitz. Und überall sitzen Sadhus am Wegesrand, bitten um eine Gabe oder philosophieren mit Sinnsuchern aus aller Welt.

Viele Sadhus verbringen den Winter hier und warten sehnsüchtig darauf, in ihre einsamen Höhlen in den Bergen zurückkehren zu können.

Auch Santosh Nath Baba. Der junge Asket liegt ausgestreckt auf einem Stein am Ufer des Ganges und singt vor sich hin. Als Kind hat er bei einem Unfall das rechte Bein verloren. Da er ein hübsches Gesicht hat und gut reden kann, wurde er Sadhu.

Seitdem ist er Ganga nicht mehr von der Seite gewichen. In ein paar Tagen wird er sich an den beschwerlichen Aufstieg in die Berge machen. "Rishikesh ist eine gute Stadt", sagt er und spielt mit einer Kette aus geschnitzten Miniatur-Totenköpfen. "Manchmal mit zu viel Ablenkung." Er lächelt breit und deutet mit seiner Krücke auf die Veranda eines Ashrams.

Drei junge Israelis hocken da mit ein paar "Babas" zusammen und lassen ein gewaltiges Schillum, eine Haschischpfeife, herumgehen.

Zügig fließt Ganga vorbei an Santoshs Stein, den Ashrams, Badeplätzen und Hotelanlagen hinaus aus Rishikesh. Uttar Pradesh heißt das Land, das jenseits der Berge liegt.

Es ist Indiens bevölkerungsreichster Bundesstaat. Städte mit Millionen Einwohnern sind hier am Ufer des Ganges gewachsen. Die Industriemetropole Kanpur etwa, die viele für die schmutzigste Stadt Indiens halten. Oder Allahabad, das alle zwölf Jahre das größte religiöse Festival der Welt ausrichtet: die Kumbh Mela. Und natürlich Varanasi.

Es heißt, sie sei die älteste Stadt der Welt.

In den kotbefleckten, verwinkelten Gassen fahren weder Autos noch Rikschas. Die Häuser sind altersschwache Greise. Und in winzigen Kammern sitzen Männlein an Webstühlen, die zur Zeit der Briten schon veraltet waren. Es ist ein stinkender, dampfender Häuserhaufen, voller Menschen, Affen, Büffel und Rinder.

Mächtige Stiere wandern frei durch dieses Labyrinth, und niemand wagt es, den heiligen Tieren den Weg zu verstellen. Varanasi ist die Stadt Shivas, dieses eigenartigen Gottes der Zerstörung, der sich mit Asche beschmiert und einen Dreizack trägt.

Zahllos sind die Tempel zu seinen Ehren. Und an jeder Straßenecke steht ein Schrein mit dem Lingam, dem phallischen Symbol des großen Gottes. Man sagt, Shiva selbst sorge dafür, dass jeder, der in seiner Stadt stirbt, erlöst werde aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Der Tod, so heißt es, sei ein freudiges Ereignis.

Und so liegen denn auch die beiden Verbrennungsstätten mit ihren rauchgeschwärzten, düsteren Tempeln nicht am Rande, sondern mitten in der Stadt am Ufer des Ganges.

"In Varanasi ist Sterben moksha, Befreiung." Diamond steuert seinen Kahn gerade am Manikarnika-Ghat vorbei, dem größten Einäscherungsplatz der Stadt. Es ist früh am Morgen, und die Scheiterhaufen leuchten matt vom Ufer herüber.

Auch der Rest der Stadt sitzt noch im grauen Nachtgewand da. Jeden Moment jedoch geht die Sonne auf. Und es beginnt ein Schauspiel, das in der Welt seinesgleichen sucht. Zuerst ist es nur ein Glänzen im Osten. Dann aber tasten die Strahlen des Taggestirns über den Ganges und erklimmen das Steilufer, auf dem Varanasi steht. Die langen Ufertreppen, die zum Fluss hinunterführen, die Kaufmannshäuser, Tempel und Paläste erstrahlen mit einem Mal in rot-goldenem Licht.

Mit ein paar Ruderschlägen erreicht Diamond den Hauptbadeplatz, eine einzige, breite Front von ins Wasser führenden Treppen. Es scheint, als sei die ganze Stadt hier, um den neuen Tag zu begrüßen. Frauen in bunten Saris erledigen diskret ihre Morgentoilette. Männer in Unterhosen und mit Brahmanenschnur gießen Gangeswasser über ihre Häupter.

Nicht nur zum Sterben ist Varanasi eine gute Stadt.

Für Ganga geht die Reise weiter. Bald schon verlässt sie Uttar Pradesh und fließt nach Bihar, das als Land der Armen und Gesetzlosen verschrien ist.

Aber es gibt einen seltenen Gast hier. Vor der Mahatma-Gandhi-Brücke in der Hauptstadt Patna kann man ihn am besten beobachten. Er ist fast blind und hat eine lange, zahnbewehrte Schnauze. Die Menschen nennen ihn Susu, weil er beim Auftauchen ein zischendes Geräusch von sich gibt.

Mit vollem Namen heißt er Platanista Gangetica, Ganges-Delphin. Angeblich lässt sich Susu auch im fernen Kalkutta hin und wieder sehen. Aber vielleicht ist das nur Legende in dieser an Legenden so reichen Stadt.

Kalkutta, das heutige Kolkata, ist anders als die anderen Städte am Ganges. Das Klima ist tropisch, die Menschen sprechen Bengali statt Hindi, selbst Ganga heißt anders hier, nämlich Hoogli. Geschätzte 15 Millionen Menschen leben in diesem Moloch. Es ist Indiens drittgrößte Metropolregion.

Kalkutta kann überwältigend sein. Laut und hektisch geht es zu in den Straßen, wo altertümliche Ambassador-Taxis mit handgezogenen Rikschas wetteifern und ganze Familien auf den Bürgersteigen hausen. Die Luft ist schneidend, voller Ruß und Abgase.

Die früher so prächtigen Fassaden der alten englischen Kolonialbauten sehen aus, als würden sie jeden Moment zusammenstürzen. Und die größten Sehenswürdigkeiten sind das Hospiz der Mutter Teresa und ein Tempel der Todesgöttin Kali.

Hundert Dollar für einen Segensspruch

Jeden Tag werden an dieser düsteren Stätte Ziegen geopfert. Der Boden ist bedeckt von Lachen geronnenen Blutes, und die Priester machen Jagd auf jeden, der aussieht, als habe er zu viel Geld im Portemonnaie. Für einen Segensspruch werden hier schon einmal hundert Dollar verlangt.

Mit dem Ruf Kalkuttas ist es folglich nicht sonderlich weit her. Viele Touristen lassen "den Scheißhaufen Gottes", wie Günter Grass die Stadt einst schmähte, links liegen. Was schade ist.

Denn wie in einem verstaubten Museum gibt es in Kalkutta so manch verstecktes Kleinod zu entdecken. Zum Beispiel das Fairlawn-Hotel, in dem man für wenig Geld leben kann wie Briten während der Kolonialzeit. Oder den friedlichen Dakshineswar-Tempel, in dem der Weise Ramakrishna seine Vision von der Einheit aller Religionen ersann.

Der Tempel steht direkt am Ganges. Eine breite Treppe führt vom Ufer hinein in den Fluss. Auch hier waschen sich die Menschen rein an Ganga, für die nun der letzte Abschnitt ihrer langen Reise beginnt. Durch tropische Landschaften, vorbei an Dörfern auf Holzpfählen und rostenden Küstenstädtchen, fließt sie ihrem Ziel entgegen.

Es ist Gezeitenland, bald schon lässt sich unmöglich sagen, wo der Fluss endet und das Meer beginnt. Inmitten dieses kilometerbreiten Stroms liegt schließlich die Insel Sagar. Und am südlichen Ende des Eilandes, an einem Punkt, der mehr symbolisch, denn real ist, befindet sich Ganga Sagar, die Mündung.

Es ist ein einsamer Ort. Nur ein paar Fischer ziehen ihre Netze von Hand durch die Brandung. Die Sonne hängt tief über dem westlichen Horizont. Am Strand stehen drei Sadhus. Einer ist jung und fast schwarz.

Einer weißhaarig und sehr alt. Der dritte mittleren Alters. Sie stehen da, als hielten sie Wacht über Ganga. Mit ihren wie in Stein gemeißelten Gesichtern schauen sie hinaus auf Meer und Fluss.

Was sehen sie wohl in den grauen Wellen?

Informationen

Anreise: Von Deutschland nach Delhi ab rund 570 Euro, z.B. mit Finnair, Qatar Airways, oder Air France. Von dort sind es 225 Kilometer nach Rishikesh, dem Ausgangspunkt zu einer Tour an die Gangesquelle.

Weitere Informationen: Indisches Fremdenverkehrsamt, Baseler Str. 48, 60329 Frankfurt/Main, Tel.: 069 / 24 29 49-0, Fax: 069 / 24 29 49 77, E-Mail: info@india-tourism.com, www.india-tourism.com oder www.indien-aktuell.de

© SZ vom 8.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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