24 Stunden wandern:Ganze Tage auf den Beinen

Lesezeit: 4 min

Hans Kammerlander zeigt, wie man 24 Stunden lang wandern kann, ohne zu verzweifeln.

Dominik Prantl

Irgendwann ist die Finsternis nicht mehr einfach nur da. Sie drückt jetzt auf die Sinne, als fiele sie direkt vom Gipfel des Berges; nur eine kleine Funzel auf der Stirn durchbricht sie, und am liebsten würde man sich ihr jetzt einfach ergeben. Hinlegen, Augen zu, schlafen, wie es der Körper normalerweise so um halb drei Uhr nachts gewohnt ist.

Außerdem ist er bereits seit fast neun Stunden in Bewegung. Aber schlafen geht schlecht, weil zur linken ein schlundähnlicher Abgrund keinen Fehltritt verzeiht und ohnehin noch fast zwei Drittel des Weges vor einem liegen. Deshalb muss es weitergehen, Schritt für Schritt, dem nächsten Tag entgegen. Doch in diesem Moment der Selbstüberwindung ist man schon am eigentlichen Ziel einer 24-Stunden-Wanderung angekommen.

Es ist Hans Kammerlander, der die Menschen dorthin bringt. Seit drei Jahren gibt der Extrembergsteiger unter dem Slogan "So weit die Füße tragen" zumindest einen kleinen Teil seiner Erfahrung an ambitionierte Wanderer weiter.

Kammerlander weiß, dass die Füße meistens weiter tragen, als viele denken. Er hat sich seit seinem Jugendalter von einer Herausforderung zur nächsten gehangelt und sich dabei immer wieder die 24 Stunden als Grenze gesetzt, ob nun am Matterhorn im Auf- und Abstieg über Hörnli-, Furggen-, Lion-, und Zmuttgrat oder bei der Begehung des Mount Everest ohne Sauerstoff vom vorgeschobenem Basislager (6400m) aus.

Zwei 24-Stunden-Wanderungen bietet er pro Jahr im Tauferer Ahrntal in Südtirol an, die jeweils aus maximal 50 Teilnehmern bestehen. Die Nachfrage ist weit höher. "Ich könnte es locker zehnmal im Jahr machen und wäre ausgebucht. Ich bin selbst überrascht", sagt Kammerlander.

Wahrscheinlich könnte er auch mehr verlangen als die abschreckend hoch wirkenden 390 Euro. Die anzuratende Hotelbuchung für die Übernachtung nach der Wanderung kommt noch hinzu. Im Preis inbegriffen sind die Mahlzeiten, Begrüßungsbüffet, Fleeceweste und Abschlussfest. Manch einer der Teilnehmer an der 2005er-Tour hat drei Jahre im Voraus gebucht.

Dabei lockt der Alpinist mit seinem Angebot, ihn einen Tag und eine Nacht über die Höhenwege seiner Heimat zu begleiten, keineswegs nur Freaks. Den typischen 24-Stunden-Wanderer definieren zu wollen wäre ungefähr so, wie ein demografisches Profil des Italienurlaubers zu erstellen.

Suche nach der eigene Grenze am Berg

Natürlich haben alle eine gewisse Motivation gemeinsam, die man als "Suche nach der eigene Grenze am Berg" umreißen könnte. Doch auf diese Suche begeben sich Ärzte und Informatiker, Mütter und Rentner, stille Genießer und aufgedrehte Wortführer. Und doch hat Kammerlander nach der Wanderung das Gefühl: "Die Gruppe war noch nie so kompakt wie dieses Mal."

Das eigentlich Bemerkenswerte ist das Potpourri an Persönlichkeiten, das sich da als Pulk am Fuße der Gletscher entlang schlängelt. 50 Meter hinter dem passionierten Bergsteiger Reinhard, der sich in seinem Leben schon weit jenseits der 6000-Meter-Marke herumgetrieben hat, wandert Alexandra Brunnhöfer, die das Ganze als Ausgleich zu ihrem stressigen Alltag mit drei Kindern sieht.

Und noch etwas weiter hinten geht Eva-Maria. Früher hatte Eva Maria Höhenangst, und man befürchtet bei ihrer zierlichen Figur, dass sie schon am ersten Hüttenstopp scheitern könnte. Aber die zierliche Frau ist ein zäher Brocken.

Ihre Höhenangst bekämpfte sie kürzlich mit Snowboard und Ski, ließ sich anschließend von einem persönlichen Trainer zur Bergfestigkeit trimmen und wollte heuer eigentlich das Annapurnamassiv umrunden. Weil das nicht klappte, musste sie sich ein neues Ziel setzen. Kammerlanders Devise passte ihr da gut ins Konzept: "Ich will den Leuten sagen: kommt raus aus eurem Nest! Ihr könnt das."

Ein Star mit eigener Telefonkarte

Andere kommen wegen Kammerlander selbst, und einige davon sind schon zum wiederholten Mal dabei. Unter den Alpinisten ist er ein Star, in Italien gibt es mittlerweile Telefonkarten mit seinem Konterfei. Anders als sein einstiger Seilgefährte Reinhold Messner macht er stets den Eindruck, als nehme er lieber an einer gemütlichen Jause in der nächsten Berghütte als an einer Diskussion im Europaparlament teil.

Nie wirkt der 48-Jährige abweisend oder belehrend. Wenn er nach einem Autogramm gefragt wird, schreibt er seinen langen Nachnamen liebevoll und gründlich bis zum letzten Buchstaben aus. Fast wie eine kleine Zeremonie. Hektik ist seine Sache nicht. Genauso redet er auch.

Seine Witze über die einheimische Bevölkerung trägt er mit der gleichen sanften Bedächtigkeit vor wie sein persönliches Anliegen bei der 24-Stunden-Wanderung. Er spricht von der Chance auf ein Grenzerlebnis und vor allem von Zielen: "Manche Leute bereiten sich auf das hier ein halbes Jahr vor. Da haben sie ein Ziel. Ziele sind viel wichtiger als Erinnerungen. Die werden ja umso schöner, je mehr Ziele du anpeilst."

Technisch ist die Wanderung nicht so anspruchsvoll, dass man einen Bergfex vom Kaliber eines Kammerlanders dabei haben müsste. Im Grunde könnte man sich das Ziel also auch einfach selbst setzen und losmarschieren. Nach dem Aufstieg zur Edelraut-Hütte geht es bis zum Sonnenaufgang zwischen 2300 und 2700 Metern dahin, ehe sich beim Abstieg bereits eine trügerische Ankunftsstimmung und Selbstzufriedenheit breitmacht.

Denn bis zur finalen Feier in Sand in Taufers um 18 Uhr sind noch sechs Stunden zu absolvieren, der Weg führt noch einmal einen knackigen Anstieg hoch über die Steiner Höfe.

Anstrengend ist das, nicht anspruchvoll, aber im Ernstfall ist es als Gruppe doch von Vorteil, ein halbes Dutzend Bergführer um sich zu haben. "Die Wanderungen sollen mindestens so sein, dass die Leute denken, sie brauchen mich", sagt Kammerlander, der bei aller Bescheidenheit auch kein schlechter Geschäftsmann ist.

Demnächst will er den Schwierigkeitsgrad noch steigern. Es schweben ihm Touren vor, bei dem die Höhenmeter gezählt oder möglichst viele Dreitausender in limitierter Zeit erklommen werden. "Vielleicht schon nächstes Jahr", sagt er. Warum die Menschen 24 Stunden am Stück wandern und dafür so viel bezahlen wie für eine ganze Woche in einem netten Hotel der Region?

Offensichtlich, weil sie sehr weit gehen können, wenn da nur einer ist wie Hans Kammerlander, der sie an die Hand nimmt und durch die Dunkelheit in die Höhe führt.

© SZ vom 26.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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