Mögliche Wiedervereinigung:Auf Zypern könnten die Zäune fallen

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Bald könnte er weg sein: Türkische Zyprer blicken durch einen Zaun auf den griechischen Teil der Insel. (Foto: AFP)

Die Chancen auf eine Wiedervereinigung der Insel sind wohl so gut wie noch nie. Ohne einen aber geht es nicht: Recep Tayyip Erdoğan.

Von Mike Szymanski, Nikosia

Mertkan Hamit fährt Schritttempo. Die Famagusta Avenue muss man auf sich wirken lassen. Diese Straße ist eine Anklage. Rechts: eine Baumschule - die Pflanzen in Reih und Glied, regelgerecht bemuttert. Links strecken Bäume ihre Äste bis in das Innere verlassener Häuser aus. Die Ruinen atmen kühle Leere aus dunklen Löchern. Rechts spielen Kinder Fußball. Links spielen die Böen, die vom Meer kommen, mit Windrädern. Oder vielmehr mit dem, was sie von ihnen übrig gelassen haben. Die meisten sind kaputt.

Hamit sagt: "Sieht man hier nicht sehr schön, was richtig und was falsch ist?" Auf der einen Seite das Leben, auf der anderen Seite dieser toter Körper. Varosha heißt er. Eine Hotelstadt, ein Anhängsel der Hafenstadt Famagusta auf Zypern. Gestorben 1974. Damals besetzte die türkische Armee den Norden. Sie wollte die Annexion der Insel durch Griechenland verhindern. Varosha ist seither militärisches Sperrgebiet. Ein kilometerlanger Zaun und Stacheldraht teilen diese Stadt. In richtig und falsch, wie Hamit sagt? So gesehen wäre man auf dieser Straße immerhin auf dem richtigen Weg, weil man begreift. Der Weg endet am Checkpoint Derynia, als ein Soldat mit Gewehr die Straße betritt. Durchfahrt gesperrt. Noch.

Manche träumen von einem vereinten Zypern

In ein paar Wochen könnte der Mann hier vielleicht Autos durchwinken. In einem Europa, das sich in der Flüchtlingskrise abschottet, Mauern und Zäune errichtet, tröstet ein Besuch auf Zypern. Diese Grenze bröckelt.

Seit gut 40 Jahren ist Zypern geteilt. Im Süden der Insel leben die Zypern-Griechen. Im Norden, in der als solche nur von Ankara anerkannten Türkischen Republik Nordzypern, die Insel-Türken. Wer in der Hauptstadt Nikosia zwischen dem Norden und Süden pendelt, braucht nicht nur Geduld am Checkpoint, sondern auch zwei Versicherungen für sein Auto. In der Pufferzone haben die Vereinten Nationen eine Pinnwand aufgestellt. Grenzgänger sollen ihre Wünsche hinterlassen. "Ich hätte gerne griechische Zyprer in meiner Klasse", schreibt ein Schüler. Mertkan Hamit kennt die Insel nur so, geteilt. Er ist 28 Jahre alt. Seitdem aber im April der Norden Mustafa Akıncı zum Präsidenten gewählt hat, träumt Hamit von einem vereinten Zypern. Das war Akıncıs Wahlversprechen. Seither herrscht "Mustafa-Mania".

Für zyprische Verhältnisse passiert Erstaunliches auf der Insel: Akıncı und der Präsident des griechischen Teils, Nicos Anastasiades überqueren gemeinsam die Demarkationslinie. Sie spazieren gemeinsam durch die Altstadt von Nikosia. Sie trinken gemeinsam Kaffee und Schnaps, den Zivania. Sie gehen gemeinsam ins Theater.

Als wolle man verlorene Zeit aufholen

Gut zehn Jahre lang hatte sich in der Frage der Wiedervereinigung nichts mehr bewegt. Damals hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Friedensplan ausgearbeitet. Die Türkei unter ihrem damaligen Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan unterstützte den Plan. In einem Referendum sprachen sich die Insel-Türken 2004 für die Wiedervereinigung aus, die meisten Zypern-Griechen aber dagegen. Man lebte weiter nebeneinander her.

Seit der Akıncı-Wahl geht nun alles so schnell, als wolle man verlorene Zeit aufholen. Schon im nächsten Jahr könnten die Zyprer in einem Referendum über die Wiedervereinigung abstimmen, heißt es auf beiden Seiten der Inseln. Ob die Gespräche dieses Mal zum Erfolg führen, werde sich schon in den nächsten Wochen zeigen. So gut wie jetzt standen die Chancen, die Teilung zu überwinden, wohl noch nie.

Anastasiades und Akıncı verstehen sich. Sie wollen die Wiedervereinigung. Sie haben schon beim Referendum 2004 dafür gekämpft, als sie noch nicht an der Spitze standen. "Jedes Nein ist ein Stein in der Mauer, die uns trennt", sagte Anastasiades damals. Aber der Präsident des Südens zu der Zeit, Tassos Papadopoulos, hintertrieb den Plan. Der UN-Sondergesandte für Zypern, Espen Barth Eide, hat geholfen, Vertrauen zwischen beiden aufzubauen. Die Männer sind sich einig, dass Zypern ein binationaler, föderaler Staat werden soll.

Grafik: Michael Mainka (Foto: Michael Mainka)

Allein im November wollen sie sich sechsmal treffen. Sie stecken in der Detailarbeit. Jetzt geht es um die schwierigen Fragen. Für etwa 200 000 bei der Teilung vertriebene Zyprer müssen offene Eigentumsfragen geklärt werden. Wenn die Politiker ein Referendum gewinnen wollen, dürfen sich nicht zu viele Menschen als Verlierer fühlen. In dieser Frage müsse man "auch die Bäume und nicht nur den Wald" sehen, heißt es aus Verhandlerkreisen. Akıncı und Anastasiades wüssten, dass auch ihr Gegenüber bei einem Referendum das Ja der eigenen Leute brauche. Es sei schon viel erreicht, wenn die Bevölkerung die Lösung vielleicht nicht als perfekt empfinde, aber als allemal besser als den Status quo.

Anastasiades hat vor eine paar Monaten ein griechisches Sprichwort zitiert: "Der Anfang ist fast schon die Hälfte." Die letzten Meter schaffen die Präsidenten aber nicht aus eigener Kraft. Ein mächtiger Mann muss mithelfen: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Als die Zypern-Türken Akıncı zum Präsidenten wählten, war Erdoğan nicht glücklich mit der Entscheidung.

Der türkische Präsident wird einen Preis verlangen

Er sieht Nordzypern als Kind, wirtschaftlich ist der Nordteil abhängig vom Mutterland. Akıncıs Abnabelungsversuch kam ungelegen - innenpolitisch hatte der türkische Präsident genug andere Sorgen. Die Nationalisten saßen ihm im Nacken. Er rüffelte Akıncı öffentlich. Als beide sich persönlich trafen, schlug er versöhnlichere Töne an. Auch er wolle eine Lösung für Zypern. Seit der Türkei-Wahl vom Wochenende, bei der Erdoğans AKP die absolute Mehrheit zurückeroberte, hat er auch außenpolitisch wieder den vollen Spielraum. Erdoğan wird aber seinen Preis verlangen. Der Süden Zyperns ist EU-Mitglied und blockiert die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU. Erdoğan weigert sich bislang, die mehr als 30 000 türkischen Soldaten von Zypern abzuziehen.

Durch die Flüchtlingskrise hat sich die Interessenlage vieler Beteiligter verändert. Die EU braucht die Türkei. Erdoğan braucht einen außenpolitischen Erfolg. Zypern braucht die Wiedervereinigung, um wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Die Demarkationslinie ist eine Wunde.

Der Status quo vor Varosha sieht so aus: Eine Reisegruppe griechischer Zyprer hat sich bis vor den Stacheldraht an die Strandseite bringen lassen. Hier ragen die Hotelruinen auf. Die Gruppe steht stumm da wie eine Trauergesellschaft. Ein Rentnerin erzählt, ihr Schwager habe hier einmal ein Hotel besessen. Mehr bringt sie nicht heraus beim Anblick dieser Geisterstadt. 40 000 Menschen wohnten einmal hier. Drinnen soll die Zeit stehen geblieben sein. Frühstückstische seien nicht abgeräumt worden. In den Autohäusern stünden noch die Modelle aus dem Jahr 1974. Erzählt man sich. Rein kommt niemand.

Mertkan Hamit gehört zu einer Bürgerinitiative, die sich für die Öffnung von Varosha einsetzt. Er sagt, jeden Tag blicke man hier auf eine vertane Chance. Die Jugendarbeitslosigkeit liege bei über 30 Prozent, zugleich werde hier ein Stück totes Land bewacht. In seiner Initiative machen sie schon Pläne, wie Varosha einmal aussehen könnte. Die Stadt soll für alle da sein, so viel steht fest. "Wir träumen. Eines Tages, wenn sie uns fragen, was machen wir aus Varosha, dann sind wir vorbereitet." Vielleicht fragt bald jemand.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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