Wolfgang Thierse im Interview:"Hessen ist das Problem der ganzen Partei"

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Neue Antworten der SPD auf ihre Rolle im Fünf-Parteien-System fordert Wolfgang Thierse, Chef der SPD-Grundwertekommision und Bundestagsvizepräsident. Im Interview spricht er über Kommunisten und das "ziemlich unanständige Spiel der CDU".

Thorsten Denkler

Wolfgang Thierse ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Chef der Grundwertekommission der SPD. Nach der Wende führte er die Ost-SPD an.

Sieht keinen anderen Weg, als die SPD im Fünf-Parteien-System neu zu justieren: Wolfgang Thierse. (Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Herr Thierse, nach Monaten der Debatte um den Umgang der SPD mit der Linkspartei, kann und will sich Andrea Ypsilanti in Hessen nicht wählen lassen, weil eine SPD-Abgeordnete ihre Zustimmung verweigert. Ist das Problem jetzt größer oder kleiner geworden?

Wolfgang Thierse: Unabhängig von dem, was in Hessen passiert muss die SPD eine Antwort darauf finden, wie sich in einem Fünf-Parteien-System verhält. Dieses Grundproblem bleibt.

sueddeutsche.de: Seit der Wende wird in der SPD darüber gestritten, wie sie mit der PDS, die inzwischen in der Linkspartei aufgegangen ist, umgehen soll. Warum hat ihre Partei hier nie zu einem klaren Kurs gefunden?

Thierse: Weil es nicht leicht ist, einen klaren Kurs zu finden.

sueddeutsche.de: Warum ist das so?

Thierse: Die SPD ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts die linke antikommunistische Volkspartei gewesen. Das ist sie heute noch. Sozialdemokratismus war in der DDR der schlimmste politische Vorwurf, der einem gemacht werden konnte. Die SED hat die Sozialdemokratie als einen besonders gefährlichen Feind betrachtet.

Trotzdem gibt es ja auch eine Erinnerung daran, dass Sozialdemokraten und Kommunisten aus der gemeinsamen Arbeiterbewegung kommen. Es gibt also unterirdische soziale und emotionale Zusammenhänge.

sueddeutsche.de: Die man ja zur Annäherung hätte nutzen können.

Thierse: Der Druck, das nicht zu tun, war und ist enorm. Die CDU hat immer dasselbe miese Spiel mit der Kommunistenfurcht gespielt - sie hat immer mit der Antikommunismus-Keule auf die SPD eingedroschen.

sueddeutsche.de: Wann hat das angefangen?

Thierse: Zum Beispiel im Jahr 1990. Damals hat sie gegen die von mutigen jungen Sozialdemokraten neu gegründete Ost-SPD Kampagnen gemacht hat mit dem Slogan "SPD gleich PDS". Und das, obwohl diese CDU selbst gleich zwei SED-hörige Blockparteien übernommen hat. Das war von einer besonderen Unanständigkeit.

sueddeutsche.de: Die CDU nutzt Angriffsflächen, die die SPD bietet.

Thierse: Ich gestehe zu, das ist eine Grundsituation, die die SPD nicht immer souverän gemeistert hat. Parteitaktisch verhält sich die CDU clever. Aber es ist zugleich ziemlich unanständig. Zumal wenn man bedenkt, dass dieselbe CDU ja im Osten auch mit PDS-Leuten koaliert und Bürgermeister und Landräte dieser Linkspartei mitgewählt hat.

sueddeutsche.de: Mit der Ost-Politik Willy Brandts begann ein sehr selbstbewusster Umgang der SPD mit den kommunistischen Kräften des Ostens. Damals hat sich die SPD den Kurs nicht von der CDU verbieten lassen.

Thierse: Vielleicht erwarten Sie zu viel. Die kleine, zarte Ost-SPD konnte doch nicht die massige und machtverdorbene SED übernehmen. Ich habe damals als Vorsitzender der Ost-SPD versucht, die Türen der Partei aufzumachen für alle jene in der SED, die eher sozialdemokratisch gesonnen waren und Macht über Menschen nicht missbraucht haben.

sueddeutsche.de: Gelungen ist das nur in Einzelfällen.

Thierse: Vorraussetzung für größere Übertritte wäre gewesen, dass sich die SED auflöst. Gregor Gysi und Hans Modrow haben das damals ausdrücklich verhindert. Sie haben um des Geldes und der Macht willen aus der SED die PDS gemacht.

sueddeutsche.de: Es haben mehr ehemalige SED-Mitglieder an die Türen der SPD geklopft, als aufgenommen wurden. Ortsvereine haben sich gesperrt, trotz Empfehlungen etwa von Egon Bahr.

Thierse: Die SPD-Ost ist gegründet worden gegen den Allmachtsanspruch der SED. Das war wagemutig. Und natürlich haben die Gründer Angst gehabt, dass sie, wenn die SED-Mitglieder massenhaft in die Ost-SPD aufnehmen, von diesen majorisiert werden. Von denen, gegen die man sich gegründet hat. Da war es doch verständlich, wenn man jeden einzelnen Fall prüft.

sueddeutsche.de: Hätte es für die SPD eine Option gegeben, mit der SED zu fusionieren, in welcher Form auch immer? Manche sagen, heute räche sich, dass das nicht geschehen sei.

Thierse: Das war keine Option. Wir waren nicht so charakterlos, die in der DDR regierende Partei übernehmen zu wollen. Es gab nur eine Option: Die SED hätte sich auflösen müssen. Aus ihr hätten dann jene beiden Parteien hervorgehen können, die in unterschiedlicher Stärke in ihr enthalten waren.

sueddeutsche.de: Die CDU hat doch auch die Blockparteien aufgenommen, die FDP genauso.

Thierse: Die waren da auf geradezu schamlose Weise viel weniger zimperlich. Zugleich haben sie mit dem moralisch erregten Zeigefinger auf die junge Ost-SPD gezeigt. In Erinnerung daran lasse ich mir heute in Sachen Glaubwürdigkeit und politischem Anstand von der CDU keinerlei Vorhaltungen machen. Sie hat keinerlei Recht dazu.

sueddeutsche.de: Es ist der SPD nie gelungen, die Linke zu marginalisieren. Weder durch Einbindung noch durch Ausgrenzung. Warum nicht?

Wolfgang Thierse sieht keine Alternative zu den schmerzhaften Reformen der Sozialsysteme. (Foto: Foto: rtr)

Thierse: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Erstens: Es gibt in Ostdeutschland eine gewisse emotionale, ideologische und in gewisser Weise auch soziale Kontinuität zur DDR und der SED.

Zweitens: Der Umstand, dass sich die PDS/Linkspartei aufführen konnte als Sprecherin all jener, die durch die Schwierigkeiten des Einigungsprozesses selber in Ängste und Unsicherheit versetzt worden sind.

Drittens: Sie kann im Westen erstarken, weil sie einen Teil jener anzieht, die sich als Opfer der schmerzlichen Reformen des Sozialstaates empfinden.

sueddeutsche.de: Warum hat die SPD nicht früh genug gegengesteuert?

Thierse: Wir konnten das doch nicht vermeiden. Die Reformen der rot-grünen Bundesregierung waren notwendig, sie sind in ihrer Zielsetzung richtig und sie sind auch erfolgreich. Aber sie sind mit Schmerzen, mit Opfern, mit Verunsicherung verbunden.

Das nimmt die Linkspartei auf radikaloppositionelle und populistische Weise auf. Wer das der SPD vorwirft, der sagt, dass wir die notwendigen Reformen nicht hätten einleiten sollen.

sueddeutsche.de: Vielleicht hätte es schon gereicht, die Parteimitglieder auf dem Weg mitzunehmen.

Thierse: Auch das hätte den Menschen nicht die unweigerlich auftretenden Veränderungsschmerzen genommen. Diese verunsicherten, von Zukunftsängsten erfüllten Menschen bilden die soziale Basis der Linken im Westen.

Es ist deshalb unfair, die Linkspartei allein zur Sache der SPD zu machen. Alle Parteien müssen zu wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Gerechtigkeit beitragen, um die soziale Basis der Linkspartei zu verkleinern.

sueddeutsche.de: Nach den Erfolgen der Linkspartei jetzt im Westen: Kann es für die SPD noch ein realistisches Ziel sein, die Linkspartei aus dem Parteiensystem zu werfen?

Thierse: Sagen wir es normaler und alltäglicher: Die Linkspartei ist ein politischer Konkurrent und Gegner. Wir haben sie als solche zu behandeln. Selbstbewusst, offensiv, scharf.

Es geht um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Tabuisierungen, Beschwörungen, Hinwegbeten - das alles hilft nicht. Die Bürger müssen klar sehen, wo die inhaltlichen Differenzen zwischen Linkspartei und SPD liegen.

sueddeutsche.de: Sie haben lange gesagt, mit denen reden: Ja. Koalieren: Nein.

Thierse: Das stimmt so nicht. Ich habe immer gesagt, wir müssen verschiedene Wege gehen. Und wir haben sie ja erprobt: Schärfste, entschiedenste Ablehnung und Abgrenzung. Das hat der SPD nicht unbedingt genutzt und der PDS nicht unbedingt geschadet.

Wir haben in Ost-Deutschland in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin mit ihr koaliert. Das hat der SPD in den meisten Fällen nicht geschadet. Und der PDS nicht sehr genutzt.

sueddeutsche.de: Wenn die SPD lernfähig wäre, müsste sie diese Beispiele doch für den Westen nutzen - und koalieren.

Thierse: Man soll der SPD nicht vorwerfen, dass sie bis vor kurzem der Meinung sein konnte, dass man die Linkspartei draußen halten kann aus den Parlamenten im Westen. Das war doch alles ganz unklar.

sueddeutsche.de: Es war auch nicht wirklich auszuschließen.

Thierse: Wie auch immer: In dieser Situation zu versuchen, sich einen politischen Konkurrenten vom Leib zu halten, dass sollte man der SPD nicht vorwerfen. Jetzt muss man sehen, dass sich die Situation verändert hat. Und daraus müssen wir Konsequenzen ziehen.

sueddeutsche.de: Ihr Parteichef Kurt Beck hat zunächst jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausgeschlossen. Dann hat er die SPD nach der Hessen-Wahl mit erheblichem Kraftaufwand wieder zu Lonken geöffnet. Und jetzt stehen alle vor dem Scherbenhaufen. Ist Beck noch der richtige Mann im Amt?

Thierse: Das ist ein Problem der ganzen Partei. Nicht nur des Vorsitzenden.

sueddeutsche.de: Beck hat Anfangs auch deshalb jede Zusammenarbeit mit der Linken ausgeschlossen, weil die Partei für die Toten an der Mauer verantwortlich sei. Das klang nicht nur nach Wahltaktik, sondern nach unumstößlicher, moralischer Überzeugung. Kann man das einfach beiseite schieben?

Thierse: Mein Verhältnis zur Linkspartei ist niemals nur pragmatisch. Ich habe Erinnerungen, ich habe existenzielle Erfahrungen mit der Vorgängerpartei gemacht. Das müssen die Mitglieder der Linkspartei auch immer wissen. Ich sage nur, die Erinnerungen und die damit verbundenen Emotionen allein können vernünftigerweise das Verhältnis zu einer Partei nicht bestimmen.

sueddeutsche.de: Entschuldigen Sie, aber SPD-Chef Beck hat die Mauertoten herangezogen. Das Argument kann doch nicht wenige Wochen später nichts mehr wert sein, auch wenn jetzt die Lage durch den Rückzug Ypsilantis eine völlig andere ist.

Thierse: Das war doch nicht der einzige Satz von Kurt Beck. Wir haben stets gesagt, die inhaltlichen Differenzen in allen politischen Feldern sind sehr, sehr tief. Abgrundtief. Und deshalb kann es keine Zusammenarbeit mit der Linkspartei auf Bundesebene geben.

sueddeutsche.de: Die inhaltlichen Differenzen können sich offenbar schnell verändern.

Thierse: Darum sollten Politiker sich auch nicht als Propheten geben. Von ihnen sollte nicht verlangt werden, dass sie über die nächsten 20 Jahre heilige Eide schwören - übrigens auch nicht von Journalisten.

sueddeutsche.de: Herr Thierse, Sie konnten in der DDR nicht Journalist werden, weil sie nie in der SED waren. Sie wurden denunziert, weil Sie sich unbotmäßig über die DDR-Führung ausgelassen haben. Andere haben Gefängnis und Folter ertragen müssen. Können sie solche Menschen verstehen, die sich jetzt wegen der Nähe zur Linkspartei von der SPD abwenden?

Thierse: Das verstehe ich sehr gut. Wir haben nicht das Recht, die Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen. Aber wir haben zugleich die Pflicht, nicht alleine aus der Vergangenheit heraus zu argumentieren, sondern in der Gegenwart Position zu beziehen.

sueddeutsche.de: Was heißt das in der Auseinandersetzung mit der Linkspartei?

Thierse: Wir müssen unser inhaltliches Profil schärfen. Und wir dürfen uns nicht allein auf die parteitaktischen Spielchen reduzieren lassen, wer mit wem koaliert oder wer vorher was sagt und nachher macht.

sueddeutsche.de: Manche sagen, das Problem der SPD sei nicht die Linkspartei, sondern die wachsende Gruppe der Nichtwähler. Warum schafft es die SPD nicht ausreichend, diese zu mobilisieren?

Thierse: Das ist doch kein spezifisches Problem der SPD. Die Gruppe der Nichtwähler wird in vielen Demokratien immer größer. Das hat etwas mit den dramatischen Veränderungen auch durch die Globalisierung zu tun, die eine große Zukunftsunsicherheit erzeugen.

Das wiederum erzeugt Ungeduld gegenüber der Politik, die durch das eilige Massenmedium Fernsehen noch bestärkt wird. Demgegenüber kann Politik nicht schnell genug reagieren. Demokratie ist unweigerlich langsam.

sueddeutsche.de: Wenn immer weniger wählen, bekommen kleine, auch populistische Parteien mehr Bedeutung. Wäre da nicht eine Art Mehrheitswahlrecht sinnvoll, wie es der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog vorschlägt?

Thierse: Ich halte unser Wahlsystem für sozial gerecht und fair. Auch wenn Regierungsbildung in den nächsten Jahren schwieriger wird als bisher. In unsicheren Zeiten wächst das Bedürfnis nach einfachen Antworten. Das kann von kleinen, radikalen Klientelparteien besser befriedigt werden, so wie es die Linkspartei macht. Die betreibt ja so etwas wie Sozialstaatsnationalismus.

Die Antwort darauf kann aber nicht sein, ein Wahlrecht einzuführen, mit dem Effekt, dass möglicherweise über die Hälfte der Stimmen nicht zählen. Zumal das Mehrheitswahlrecht ja nicht vor Populismus schützt, sondern ihn möglicherweise noch forciert. Wenn die Losung heißt, der Gewinner bekommt alles, dann ist die Verführung, um jeden Preis zu gewinnen, noch viel größer.

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