Wirtschaftsstandort:Der Glaube von Görlitz

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Die IG Metall feiert, dass Siemens und Bombardier in der sächsischen Stadt bleiben - für die Bürger war es ein Intensivkurs in Kapitalismus und Demokratie.

Von Detlef Esslinger, Görlitz

Wenn bei einem kleinen Theaterspiel nicht alles klappt: Das kann auch interessant sein. Gerade haben der sächsische Ministerpräsident und der DGB-Vorsitzende ihre Reden gehalten, nun sind Schüler und junge Menschen dran, die bei Siemens arbeiten. Sie tragen eine Kulisse ihrer Stadt vor die Bühne, der Himmel darauf voll dunkler Wolken. Dann kommen Ritter, sie halten Schilde, auf denen steht, wen sie jeweils verkörpern: Stadtwerke, Medien, Kirche, Kitas, Gaststätten, Schulen. Die Ritter vertreiben die Wolken - und nun soll ein knallgelber Pappkarton in den Himmel montiert werden, als "Lichtblick" gedacht. Aber, er hält nicht: Zwei Ritter müssen ihn packen, bis zum Ende der Aufführung. Eine bessere Panne, um die fragile Lage zu erklären, kann es kaum geben.

Görlitz im hintersten Winkel Sachsens, an der Neiße und damit der Grenze zu Polen gelegen, hat nach der Wende wohl mehr erlebt als zehn andere Städte zusammen. Ein Industriestandort, der seit den Neunzigern stark schrumpfte; eine Altstadt, die auch deshalb wie ein Freilichtmuseum saniert werden konnte, weil ein anonymer Spender zwei Jahrzehnte lang jährlich eine Million Mark und später den Gegenwert in Euro überwies; Drehort für die "Inglourious Basterds", den "Vorleser" und das "Grand Budapest Hotel"; und in den vergangenen Monaten das Drama um die Werke von Siemens und Bombardier.

Aber in Görlitz ist etwas gelungen, was sonst praktisch nie gelingt: Gewerkschaften, Politiker und Bürger haben zwei Konzernvorstände dazu gebracht, Entscheidungen zurückzunehmen. Bei Siemens in Görlitz verdienen 800 Menschen ihr Geld mit Turbinen, bei Bombardier leben 1400 Menschen davon, Eisenbahnwaggons zu bauen. Es sind die bei weitem größten Arbeitgeber in einer Stadt von 57 000 Einwohner, und wären die Werke wirklich dicht gemacht worden, wie vor einem Dreivierteljahr verkündet - es hätte nicht einfach zwei Fabriken weniger gegeben. Es wäre ein ganzer Industriestandort erledigt gewesen. Die Erleichterung, dass es nicht so gekommen ist, wird von den Gewerkschaften nun gefeiert, mit einem "Dankesfest" auf dem Marienplatz der Stadt. Es gibt eine Band, eine Kletterwand, freies Eis für die Kinder - sowie eine Andacht in der Kirche nebenan; Erleichterung und Anspannung gehören halt immer noch zusammen.

Warum bleiben Siemens und Bombardier jetzt doch? Der Erfolg hat viele Väter, heißt ein Sprichwort, und in dem Fall stimmt es wohl. Die IG Metall hat in Görlitz einen Geschäftsführer, Jan Otto, der wahrscheinlich eines ihrer größeren Talente ist. Der Mann kann reden, er kann motivieren, er kann mehr als Trillerpfeifen organisieren. Zu den Protestformen in Görlitz gehörten ein Weihnachtssingen, eine Fahrradtour nach München zum Siemens-Vorstand, eine Demo mit 7000 Teilnehmern, bei der neben Funktionären auch Schulkinder Reden hielten. 7000 Demonstranten in einer Stadt von 57 000 Einwohnern: Das ist, als ob in Berlin 450 000 Menschen auf die Straße gingen, für ein lokales Thema. Der stilvolle Protest, getragen von der Stadtgesellschaft, hat bei den Firmen Eindruck gemacht, das räumt man dort ein.

Warum schließen die beiden Werke jetzt doch nicht? Dafür gibt es mindestens drei Gründe

Die gewählten Politiker waren ebenfalls sehr aktiv. Alle bei den Gewerkschaften reden gut über den im Dezember ins Amt gekommenen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer von der CDU, der sich damals gleich einen Termin bei Siemens-Chef Joe Kaeser in München besorgte und ihm klarmachte, was eine Schließung in Görlitz bedeuten würde. Man muss ja nur vor den Geschäften um den Marienplatz stehen: Schwind's Erben, ein Modehaus; Fleischerei Homilius, Restaurant Am Goldenen Strauss, "Gold- und Silberwaren Theodor Finster Begründet 1845" - wer hätten künftig deren Kunden sein sollen? Für Görlitz wäre es der zweite Zusammenbruch nach 1990 geworden. Und soll man sich dann wundern, wenn Menschen an Marktwirtschaft und Demokratie verzweifeln?

Demnächst reist der Wirtschaftsminister Martin Dulig von der SPD nach Kanada, zur Führung von Bombardier, um die Lage zu besprechen. Bombardier gilt als schwieriger als Siemens; Ministerpräsident Kretschmer sagt auf dem Marienplatz: "Die Führung weiß nicht so recht, wo sie hin will, sie hat keinen gesunden Blick auf die Realität. Das ist immer schwierig." Betriebsbedingte Kündigungen sind inzwischen bis Ende 2019 ausgeschlossen, die Gewerkschaften hoffen, von den 1400 Jobs wenigstens 800 halten zu können. Im Bombardier-Werk werden womöglich künftig keine kompletten Waggons mehr gebaut, vielmehr wird nach weiteren Möglichkeiten gesucht, sich zu spezialisieren.

Demonstranten, die nicht pöbeln; sowie "einflussreiche Personen, die eine Rolle gespielt haben" (wie es einer sagt, der vieles aus der Nähe erlebt hat, aber nicht mit Namen zitiert werden will) - das waren zwei Faktoren des Erfolgs. Der dritte war, dass die Arbeitnehmer Argumente hatten. Ein Geschäft mit Gasturbinen mag schwierig werden, wenn es mit fossilen Rohstoffen zu Ende geht; in Görlitz aber werden Industriedampfturbinen gebaut, die man für Energie aus Sonne und Biomasse braucht, zum Beispiel. Nun will Siemens von hier aus das globale Geschäft für diese Turbinen führen, am 1. Oktober geht's los.

Ein DGB-Vorsitzender kommt indes nicht, um auf dem Marienplatz Vorstände zu loben; das ist nach seinem Verständnis nicht sein Job. Was Reiner Hoffmann lobt, ist der "solidarische Zusammenhalt" der Görlitzer. Den Vorständen hingegen ruft er eine Forderung zu: "Nehmen Sie Ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr, und nicht nur die Verantwortung, die Sie gegenüber Ihren Aktionären zu haben meinen." Die Görlitzer haben in den vergangenen Jahren erlebt, welche Chancen und Zumutungen der Kapitalismus bereithält; nun haben sie erfahren, was in der Demokratie möglich ist. Bei der Andacht in der Kirche darf der IG-Metall-Geschäftsführer Otto sprechen, er redet über das, woran einer wie er glaubt. Nicht so sehr an den Herrgott, sondern: "Ich habe immer daran geglaubt, dass man die Dinge selbst in die Hand nehmen und zum Positiven verändern kann."

© SZ vom 23.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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