Wikinger:Sagenhafte Helden - der Literatur

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Das Wikinger-Element in Islands Elf ist groß. Doch die Nordländer schrieben noch lieber als sie kämpften.

Von Sebastian Herrmann

Wenn es im Sport mal gut läuft, verklärt das irgendjemand heutzutage gleich zu einem Märchen. Deutschland und seine Fußballer erlebten 2006 das "Sommermärchen". Die Handballer versuchten es später mit dem "Wintermärchen". Und seit Island gegen alle Erwartungen bei der Fußball-EM die Nationalmannschaft Englands besiegt und gedemütigt hat, kursiert das "Wikingermärchen". Die Wikinger, sie sind ja der wirklich allererste Einfall, der sich aufdrängt beim Gedanken an tapfere Kerle aus dem Norden, die einen übermächtigen Gegner besiegen.

Dann tragen die isländischen Fans auch noch gerne gehörnte Helme, ganz wie es das Klischee verlangt. Demzufolge gießen sie sich sicher mächtige Mengen Bier der in Island beliebten Marke "Viking" in die Kehlen, um dann kollektiv ein markiges "Hu!" durch das Stadion zu brüllen. Nach dem erfolgreichen Fußball-Raubzug gegen die Engländer sagte schließlich noch der Spieler Ragnar Sigurðsson ins Mikrofon eines Reporters: "Wir sind Wikinger. Wir haben vor niemandem Angst." Bei so viel Wikinger-Geschrei würde es manchen wohl nicht einmal verwundern, wenn die Nationalmannschaft von der Vulkaninsel im Nordatlantik im Drachenboot zur Europameisterschaft nach Frankreich gerudert wäre.

Das Klischee vom Wikinger bedient Vorstellungen von starken Männern, die kaum wissen, wohin mit ihrer Kraft. Und wenn sie gerade eine Streitaxt zur Hand und keine besseren Termine hatten, dann ging es natürlich los, um ein bisschen zu rauben und zu brandschatzen. Statt mit der Hiebwaffe Siedlungen an der englischen Küste zu überfallen, haben nun die Fußball-Wikinger die Engländer von hinten umgegrätscht. Soweit die Zutaten, aus denen sich ein Wikingermärchen konstruieren lässt. Doch das Bild vom raufenden, grobschlächtigen Unhold ist so mächtig, wie es falsch ist.

Bezogen auf das Land Island und auch auf seine Nationalmannschaft muss gesagt werden: In beiden steckt tatsächlich sehr viel Wikinger, aber ein ganz anderer, als gemeinhin angenommen wird. Statt Streitäxten schwangen die frühen Siedler Islands nämlich viel lieber Schreibgeräte und hinterließen der Welt den reichsten Schatz der altnordischen Literatur. Mehr noch, diese Feingeister gründeten 930 das Althing, so heißt heute noch das älteste Parlament der Welt. Sie organisierten ihr Land auf eine Weise, die man großzügig als Vorform von Demokratie deuten könnte. Sie verzichteten auf einen König und versuchten die unvermeidlichen Streitereien halbwegs zivilisiert zu lösen.

Wer also nach dem Wikinger-Element in Islands Nationalteam sucht, der findet dieses nicht in der technisch eher kargen und dafür robusten Spielweise. Es steckt vielmehr im starken Zusammenhalt dieser Elf. Im Teamgeist, in der Bereitschaft, sich in die Mannschaft einzuordnen und darin, keinen Einzelspieler auf einen Thron zu heben: Das ist der Wikinger-Geist, mit dem England besiegt wurde.

Für die etwa 330 000 Bewohner der Insel im Nordatlantik spielt das kulturelle Erbe ihrer Urahnen eine wichtige Rolle. "Die Isländer sind vor allem sehr stolz auf ihre Sprache", sagt Katharina Schubert, Dozentin für Isländisch an der LMU München. Diese Sprache hat sich nur wenig gewandelt, seitdem der Wikinger Gardar Svavarsson die Feuerinsel im Jahr 875 als einer der ersten Seefahrer umsegelte und an der Nordküste eine der ersten Siedlungen gründete, Vorläufer des heutigen Húsavík. Immigranten aus Norwegen, weiteren skandinavischen Ländern und keltischen Siedlungsgebieten ließen sich in den folgenden Jahrhunderten auf Island nieder - und setzten sich dort vor allem hin, um Geschichten aufzuschreiben.

"Mehr oder weniger alles, was wir an altnordischer Mythologie kennen, haben die Isländer aufgeschrieben", sagt Schubert. Die Edda, die ganzen anderen Göttererzählungen, dazu die Isländer-Sagas, Vorläufer des Nibelungenlieds. Die frühen Wikinger auf Island saßen offenbar mehr am Schreibtisch als im Drachenboot. Ihre Verwandtschaft im heutigen Norwegen, Schweden und Dänemark hinterließ nicht mal einen ansatzweise so großen Schatz an Literatur. Von wegen Haudrauf, die isländischen Wikinger waren mehr Denker als Demolierer. Wie die Nationalmannschaft heute: Die wusste ja gegen England auch genau, was sie da tat, statt kopflos wie Berserker gegen die Engländer anzurennen.

Die Isländer-Sagas gehören noch heute zum Lernstoff isländischer Schüler. Sprache und Inhalt verknüpfen sie mit der Ära der Wikinger vor etwa 1000 Jahren. Die Sagas erzählen die üblichen Geschichten: Streitereien, Rache, geächtete Männer und so weiter. Das Ganze formuliert in einer extrem distanzierten, nüchternen Sprache. Wird dem Held ein Speer in den Bauch gerammt, kann es sein, dass der Getroffene kommentiert: "Das hat gesessen." Und dann stirbt. Insofern ist der isländische Fußballkommentator Guðmundur Benediktsson, dessen hyperventiliertes Jubelgeschrei das Internet begeistert, gänzlich unwikingerhaft. Aber: Dieser Mann verweist auf eine weitere Besonderheit Islands, die Vulkane natürlich. Das mit den Wikingern sollte man auch nicht zu weit treiben: In den Sagas sterben die Helden am Ende fast immer. Und es will doch niemand, dass Island bei der EM ausscheidet.

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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