Wehrbeauftragter:Steinige Wege zu Europas Selbstbehauptung

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Hans-Peter Bartels macht sich Gedanken über Deutschlands Beitrag zur Sicherheitspolitik.

Von Werner Weidenfeld

Europa ist offenbar seine diskursive Energie ausgegangen. Wir leben in einer neuen sicherheitspolitischen Epoche und begegnen dieser historischen Herausforderung mit strategischer Sprachlosigkeit. Der Zielhorizont Europa wankt. Er erodiert von innen und von außen. Der Firnis der Zivilisation ist offenbar dünner als bisher angenommen. All das entleert den europäischen Ansatz, der einmal zu den großen Erfolgsgeschichten zählte. Man hatte aus den Fehlern der Geschichte gelernt, nach Jahrhunderten der Kriege, nach zwei Weltkriegen - und jetzt sollte das Zusammenleben ganz anders organisiert werden: als Friedensprojekt, als Ort des Beitrags zur globalen Zivilisation. Und bereits 1954 - im Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) - hatte man eine europäische Armee, einen europäischen Verteidigungsminister, eine geradezu perfekte Zusammenarbeit von EVG und Nato vertraglich fixiert. Heute wirken diese Hinweise wie Vorhaben einer längst vergangenen Epoche, Material für Museumsdirektoren.

Also drängt es, endlich mehr zu wissen, wie künftig europäische Sicherheit gestaltet werden kann, ja gestaltet werden muss und welchen Schlüsselbeitrag dazu Deutschland liefern wird. Die Erwartungen an das Buch von Hans-Peter Bartels sind hoch: Die Fragestellung ist von dramatischer Aktualität, und der Autor hat einen großen Erfahrungshorizont als langjähriger Bundestagsabgeordneter, zuletzt Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und gegenwärtig Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages.

Aber dann beginnt das Buch in der ersten Zeile mit Dschibuti. Muss das sein? Natürlich erinnert sich der kundige Leser bald an die sicherheitspolitische Lage am Horn von Afrika. Aber definiert sich hier die Zukunft der Organisation europäischer Sicherheit? Da geht es doch um umfassendere strategische Perspektiven. Es geht um den Aufbau einer strategischen Kultur.

Leicht irritiert ist der Leser, bis er erfährt, dass der Autor für dieses Buch Ergebnisse seines Seminars zur sicherheitspolitischen Geografie Europas verarbeitet, das er an der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat. So ist eben das didaktische Material, das man zur gedanklichen Motivation jungen Studenten vorlegt, hier eingearbeitet. Man erfährt auf wenigen Seiten Wissenswertes über Chinas langen Marsch und Amerikas neuen Kalten Krieg, den britischen Sonderfall und die Politik Frankreichs. Man liest auch einiges über die Probleme der sicherheitspolitischen Haushaltsplanung. Aber liefert so etwas - jenseits studentischer Übungen - den Schlüssel zur sicherheitspolitischen Zukunft Europas?

Der Sonderfall Großbritannien wird historisch freundlich dargestellt. Das ständige Bremsen Großbritanniens in der europäischen Sicherheitspolitik wird erfahrbar. Auch als London wegen des Brexit nicht mehr vollgültig eingreifendes Mitglied war. Nun baute die EU ihre Sicherheitspolitik deutlich aus: Verteidigungsfonds, Battle Groups, Kommandozentrale, medizinisches Koordinierungssystem. Das sind markante Vorbeiträge zum Thema "Europäische Armee". Die bisherige Beauftragte der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, sagte dazu kürzlich: "In den letzten zehn Monaten haben wir sicherheitspolitisch mehr entschieden als in den letzten zehn Jahren."

Mit freundlicher Oberflächlichkeit wird das Kapitel "Deutschlands Strategiedebatte" ausformuliert. Auch die dort angeführte Literatur entspricht der Bibliografie eines Seminars für Studienanfänger. Der zum Thema ernsthafteste und ergiebigste Text beginnt mit der Analyse von Kooperationsfeldern: Weg 1 ist für Hans-Peter Bartels die Nato-Europäisierung. Weg 2 ist die sicherheitspolitische EU-Europäisierung. Weg 3 bildet dann die bilaterale Europäisierung. Kraftvoll ruft der Autor aus: "Der Zug rollt." Die Kosten militärischer Kleinstaaterei werden dem Leser konkret und anschaulich vor Augen geführt. Schließlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Selbstbehauptung Europas. Gegen Ende des Buches verweist Bartels auf eine andere Neuerscheinung: Lippert, Ondarza, Perthes: Strategische Autonomie Europas (Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019). Dieses Buch sollte man unbedingt ergänzend lesen - es ist ein Meisterwerk und bietet einen großen Erkenntnisgewinn.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Krisen haben zu Lernprozessen geführt. Fehlende Antworten auf die Sinnfragen haben zu Katastrophen geführt. Die strategische Orientierung des nächsten Europa ist also der geistige Beitrag zur Vermeidung der Katastrophe.

Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).

© SZ vom 16.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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