Wahlgesetz:Das vornehmste Recht

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Wer wegen einer Behinderung einen gerichtlich bestellten Betreuer hat, darf bislang nicht wählen gehen. Das muss sich ändern, urteilte das Bundes­verfassungsgericht. Bundestags­abgeordnete fordern nun eine Gesetzes­änderung vor der Europawahl.

Von Daniel Brössler, Berlin

Die Opposition im Bundestag will mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts durchsetzen, dass Menschen mit gerichtlich angeordneter Betreuung bereits an der Europawahl Ende Mai teilnehmen können. Grüne, FDP und Linke kündigten am Mittwoch einen Antrag auf eine einstweilige Anordnung in Karlsruhe an, um noch rechtzeitig vor der Wahl eine Gesetzesänderung zu erzwingen. Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar, das den Ausschluss von unter Betreuung stehenden Menschen mit Behinderung von Bundestagswahlen als verfassungswidrig eingestuft hatte.

Mit Verweis auf das Urteil hatten Grüne, FDP und Linke vergangene Woche vergeblich versucht, eine entsprechende Gesetzesänderung bereits für die Europawahl durchzusetzen. Bisher werden Menschen mit Behinderung von Wahlen ausgeschlossen, soweit für sie "zur Besorgung aller Angelegenheiten" ein Betreuer bestellt worden ist. Ebenfalls gilt das für schuldunfähige Straftäter, die in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht sind. Die Zahl der Betroffenen wird auf etwa 85 000 Menschen bundesweit geschätzt.

Die große Koalition wehrt derzeit ab: Für die Europawahl im Mai sei es bereits zu spät

Klar sei, dass auch der Ausschluss von der Europawahl "diskriminierend und nicht verfassungsgemäß ist", sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann. Dies ergebe sich schon daraus, dass das Bundestagswahlgesetz und das Europawahlgesetz wortgleich seien, argumentierte der stellvertretende FDP-Fraktionschef Stephan Thomae. "Dass Grüne, Linke und FDP eine gemeinsame Initiative ergreifen, ist nicht parlamentarischer Alltag bei uns, aber die große Koalition zwingt uns geradezu dazu", sagte er. Es nahe "in großen Schritten die Wahl zum Europäischen Parlament und es wäre nur ein Knopfdruck notwendig, um die betreuten Menschen auch an der Wahl zu beteiligen", sagte er. Da die schwarz-rote Koalition sich dem notwendigen Schritt verweigere, sei man gezwungen, "rettende Sofortmaßnahmen" zu ergreifen.

"Die Missachtung des Verfassungsgerichtes liegt eklatant auf der Hand", betonte der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Friedrich Straetmanns. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Beschuss rechtzeitig vor der Europawahl ein "klares Signal" ausgesendet. Dies sei als "Arbeitsauftrag an das Parlament" zu verstehen. Er rechne mit einer Entscheidung aus Karlsruhe in den nächsten drei bis vier Wochen. Stichtag für die Eintragung aller Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis ist der 14. April.

Für nicht stichhaltig halten die drei Fraktionen den Verweis der großen Koalition auf Vorgaben der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), wonach Wahlrechtsänderungen mindestens ein Jahr vor einem Wahltermin zu erfolgen haben. Der Verweis hierauf sei nicht "ansatzweise haltbar", sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Haßelmann. Die Vorgabe solle Ungleichgewichte im Parteienwettbewerb verhindern. Eine solche Gefahr bestehe im vorliegenden Fall aber überhaupt nicht.

Als erstes Bundesland will Niedersachsen bei anstehenden Kommunalwahlen das inklusive Wahlrecht umsetzen. "Damit dürfen Menschen mit Behinderungen schon im Mai Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wählen", sagte Sozialministerin Carola Reimann (SPD). In Deutschland ist 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Kernziel ist die selbstbestimmte, umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten, Geschlecht und Herkunft.

© SZ vom 21.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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