Vor dem SPD-Parteitag:Die Kunst des Chamäleons

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Während der Streit mit Vizekanzler Müntefering die öffentliche Debatte dominiert, hat Parteichef Beck hinter den Kulissen fast unbemerkt eine Korrektur des SPD-Grundsatzprogramms erreicht: Die Sozialdemokraten sollen wieder sozialer sein.

Heribert Prantl

Der Goldhamster braucht sechzehn Tage. Die Katze sechzig. Beim Esel dauert die Tragezeit ein Jahr. Am längsten braucht der afrikanische Elefant: Erst nach zwei Jahren kommt das Junge zur Welt. Verglichen mit der SPD sind das alles sehr kurze Zeiten: Bei ihr hat es lange 18 Jahre gedauert, bis sie nun endlich auf dem Hamburger Parteitag ihr neues Grundsatzprogramm gebären kann.

Genossen und Kontrahenten: SPD-Parteichef Beck (links) und Vizekanzler Müntefering. (Foto: Foto: ddp)

Das hängt nicht nur damit zusammen, dass der Organismus der SPD viel komplizierter ist als der eines Säugetiers, sondern vor allem damit, dass die SPD nicht wusste, was sie will. Vor zwei, drei Jahren stand die SPD da wie eine Elefantenkuh, die ein Nashorn zur Welt bringen will.

Anders gesagt: Die Partei hat den politisch-genetischen Code ihres Grundsatzprogramms während des Reifungsprozesses komplett umprogrammiert. Aus einem Programmentwurf, der sich noch vor kurzem so las, als sei er in Teilen von der FDP ausgearbeitet worden, ist zuletzt doch noch ein klassisch sozialdemokratisches Programm geworden.

Wo vorher der Entwurf des neuen SPD-Programms den Sozialstaat an seine Grenzen gekommen sah, wird der Sozialstaat nun als Bürge für Sicherheit in Zeiten der Globalisierung gesehen, der die Menschen vor existentieller Not, Ausbeutung und Diskriminierung schützt.

Im Schatten der Berliner Mauer geschrieben

Wo zuvor unter dem Stichwort "Arbeitswelt" als Ziel ausgegeben wurde, es sollten die Menschen dabei unterstützt werden, den Anforderungen im Beruf gerecht zu werden, wird nun das Recht auf eine gerecht entlohnte Arbeit betont und die Armutsbekämpfung groß geschrieben. Das Programm ist jetzt ein klares Bekenntnis zu einem Sozialstaat - zu einem Staat, der sich stark machen soll, um den Schwachen zu helfen.

Diese Grundsatzkorrektur des Grundsatzprogramms ist vom Parteivorsitzenden Kurt Beck hinter den Kulissen und von der Öffentlichkeit fast unbemerkt bewerkstelligt worden. Dort wurde nur sein Streit mit dem Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering aufmerksam registriert und heftig kommentiert.

Der öffentlichkeitswirksame Vorstoß, älteren Arbeitslosen das Arbeitslosengeld I wieder länger zukommen zu lassen, war aber für Beck nur das Tüpfelchen auf das von ihm sozialstaatlich gewendete Grundsatzprogramm. Ginge es um eine Auto, dann könnte man sagten: Das war die Probefahrt. Der Streit um das Arbeitslosengeld 1 diente nicht allein der Demonstration, wer Herr im Haus der SPD ist und dort das Sagen hat. Die Leitanträge sowohl zum Mindestlohn als auch zur Verlängerung des ALG I ergeben sich für Beck unmittelbar aus dem neuen Programm, das jetzt nicht mehr wie ursprünglich "Kraft der Erneuerung" heißt, sondern "Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert".

Das Nachdenken über das jetzige Grundsatzprogramm begann schon, als das 1989er Programm, das Berliner Programm, gerade verabschiedet worden war; dieses war von Anfang an veraltet. Es hatte das berühmte Godesberger Programm von 1959 fortentwickeln sollen - das Programm also, mit dem die SPD Volkspartei geworden war und mit dem sie die Weichen für ihre Regierungsfähigkeit gestellt hatte.

Das Berliner Programm war entstanden im Zeitgeist der achtziger Jahre, der noch nichts ahnte von den weltpolitischen Umbrüchen und der Wiedervereinigung; und als diese kam, konnte das Berliner Programm nicht so schnell umgeschrieben werden. Die SPD hatte also ein Berliner Programm, das noch im Schatten der Berliner Mauer geschrieben worden war. Man beschloss es zwar noch, schickte sich aber sogleich an, ein neues vorzubereiten.

Agenda-Gedankengut mit sozialen Einsprengseln

Doch die Arbeiten schleppten sich dahin, und noch bevor ein neues Programm Konturen erhalten konnte, trat 1998 ein Ereignis ein, das alles beiseitekehrte: Die SPD gewann die Wahl, es war nun keine Zeit mehr für die Theorie. Gerhard Schröder wurde erst Kanzler, dann Parteivorsitzender, er schloss Allianzen mit dem britischem Regierungschef Tony Blair, fand Gefallen an dessen neoliberalem Kurs - und machte nun sein eigenes Programm, die Agenda 2010; diese ließ er von einem SPD-Parteitag in Berlin beschließen, wodurch sie den Status eines Interims-Programms erhielt. Das noch ausstehende Grundsatzprogramm wurde nun in diese Richtung getrimmt, den Trimm-Meister machte Franz Müntefering.

Es gab in der Partei höchst kontroverse Debatten, auch über den "demokratischen Sozialismus", der aus dem Programmentwurf verbannt worden war; die Debatten wurden aber jäh abgebrochen, als Schröder und Müntefering im Frühsommer 2005 beschlossen, vorzeitig Neuwahlen einzuläuten. Der als Programmparteitag vorgesehene Parteitag von Karlsruhe im November 2005 diente dann nicht dem Programm, sondern dem Wundenlecken nach der Bundestagswahl und der Wahl eines neuen Vorsitzenden - Matthias Platzeck.

Er war nun (nach Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und Franz Müntefering) der siebte Parteichef, der sich an einem neuen Grundsatzprogramm versuchen sollte. Es entstand in der Kürze seiner Zeit ein Torso aus Agenda-Gedankengut mit etlichen sozialen Einsprengseln.

Weitere Farbenwechsel sind nicht ausgeschlossen

Kurt Beck, der neue Vorsitzende, nahm diesen Torso im Frühjahr 2006, stellte ihn zur Diskussion, ließ intern die Mitglieder befragen, die viel Unmut über den Kurs der Partei äußerten; tausend Änderungsanträge aus den Parteigliederungen gingen ein, wurden verarbeitet, SPD-nahe Experten wurden befragt ("100 kluge Köpfe"), deren Positionen in einem Buch publiziert, nun schon unter dem neuen Grundsatzprogrammtitel "Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert".

Aus alledem ließ Beck (mit Hilfe alter SPD-Füchse wie Erhard Eppler) ein Programm modeln, das "soziale und demokratische Spielregeln" für den globalen Kapitalismus propagiert. Der "demokratische Sozialismus" wird wieder selbstbewusst aus der Ecke herausgeholt, weil man ihn nicht Lafontaine und der neuen Linkspartei überlassen will.

Es gibt freilich ein Gegenprogramm, von dem derzeit niemand spricht und das, wie die frühere Fassung des jetzt gewendeten Grundsatzprogramms, auf der Agenda 2010 fußt.

Es findet sich in einem Buch, das Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und Matthias Platzeck unter dem Titel "Auf der Höhe der Zeit" Ende August vorgestellt haben. Das bedeutet: Die Programmdebatte ist nicht zu Ende, auch wenn das Programm auf dem Parteitag glorios verabschiedet werden wird.

Seiner Entstehungsgeschichte nach ist das neue Grundsatzprogramm ein Chamäleon. Weitere Farbenwechsel sind daher nicht ausgeschlossen.

© SZ vom 26.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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