Vincent van Gogh:Striche, die eine Welt bedeuten

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Der Niederländer entwickelte seine Malweise in den wenigen Jahren seines Schaffens enorm. Immer ging es ihm darum, das Wesen dessen, was er abbildete, zu erfühlen.

Von Gottfried Knapp

Vincent van Gogh hat wie kein anderer Künstler die Existenz von Dingen, die ihm begegneten, als Herausforderung empfunden, ja als Aufforderung, emotional auf die empfundene Kreatürlichkeit zu reagieren. Als er, der Sohn eines Pastors, erkennen musste, dass er dem fast schmerzhaft empfundenen Auftrag mit geistlich-theologischen Mitteln nicht gerecht werden konnte, hat er nach Ersatzmitteln geistig-kommunikativer Art gesucht und sich auf die Malerei als Medium der emotionalen Äußerung gestürzt. Mit ihr konnte er etwas mitteilen von der Zuneigung, ja von der Erregung, die ganz gewöhnliche Objekte und Menschen in ihm auslösten. Das Malen war anfangs also fast eine Art von Wiedergutmachung an Menschen und Dingen, die ihm etwas bedeuteten, die er in ihrer Besonderheit würdigen wollte, für die er aber sonst nichts tun konnte.

Man könnte die ungeheuerliche künstlerische Entwicklung, die in van Goghs Werk zu erkennen ist, von den ersten Versuchen, Gegenstände und Menschen der eigenen Umgebung in ihrer charakteristischen Besonderheit sichtbar zu machen, bis zu den manisch insistierenden Farb-Beschwörungen der letzten Bilder, als das Ergebnis eines fast verzweifelten Versuchs beschreiben, der empfundenen Komplexität der Welt etwas emotional Entsprechendes entgegenzusetzen. Das Zeichnen und Malen ist also, ähnlich wie das Briefeschreiben, das van Gogh lebenslang mit ähnlicher Intensität betrieben hat, eine Form der Selbstvergewisserung, aber auch der Anteilnahme, an der sich ablesen lässt, was ihn im Inneren beschäftigte.

In seinen frühesten Zeichnungen hat van Gogh die Sujets, die er ins Bewusstsein rücken wollte - karge Landschaften, düstere Bauernkaten und Menschen, deren Körper durch harte Arbeit verbogen waren - noch mit naturalistischer Überexaktheit auf das Papier gestrichelt, als befürchte er, durch kleine Unkorrektheiten den Objekten, die er umarmen wollte, Schmerz zuzufügen. In den Gemälden der gleichen Zeit ist Vincent schon deutlich spontaner. Mit erstaunlicher Entschiedenheit setzt er, etwa in den zahlreichen Porträts von Bäuerinnen, dicke Ölkleckse, die grob aus dem Grund hervorspringen, in die skizzenhaft spontan erfassten Gesichter, um anatomische Besonderheiten hervorzuheben.

So bekommen die Gesichtszüge die Plastizität und Präsenz einer geschnitzten Holzskulptur, obwohl kaum ein Lichtstrahl in das Dunkel eindringt, das sie gefangen hält. Mit präzise geführten Pinselstrichen und einzelnen Farbhieben haucht van Gogh den menschlichen Abbildern also Leben ein, er macht Charaktere sichtbar und zeichnet Schicksale in die herrschende Finsternis. Doch von den bohrenden Strichwiederholungen späterer Werke ist er hier noch weit entfernt.

Wo etwas Wesentliches zu sehen war, summierten sich die Striche

Warum Vincent van Gogh in den paar Jahren, die ihm als Künstler zum Arbeiten blieben, die Technik des Farbenauftrags immer wieder verändert und den abzubildenden Gegenständen angepasst hat, lässt sich von den zeitlich parallel entstandenen Zeichnungen aus gut erklären. Schon in Holland dürfte Vincent beim Zeichnen von Landschaften gemerkt haben, dass er mit der grafisch und perspektivisch korrekten Wiedergabe von Details, mit brav ausgeführten Parallelschraffuren die atmosphärischen Besonderheiten eines Orts und eines Augenblicks nicht ausdrücken konnte. Also versuchte er die Empfindungen, die er beim Betrachten des Motivs hatte, ins Zeichnerische zu übersetzen.

Da mit der Feder aber nur Striche gezogen werden konnten, musste er seine Emotion auf die Striche übertragen. Die gezeichneten Linien bekamen also plötzlich Schwung, sie kreiselten um bestimmte Gegenstände herum, und wo etwas Wesentliches hervorzuheben war, summierten sie sich auf fast schon körperliche Weise. So ist in den Zeichnungen von Sonnenuntergängen der riesige, über dem Horizont liegende Sonnenball, also der Quell der Helligkeit, die dunkelste Stelle im Bild, denn seine lichtspendende Masse besteht aus einem Gewühl von schwarzen Linien, auf das Tintenpfeile von allen Seiten radial zustürzen.

Mit einem gewaltigen Aufwand an bestätigenden Strichen wird hier also die empfundene Gewalt des südlichen Sonnenlichts gestisch nachvollzogen. Die Wirkung dieser Massierung ist enorm: Nie war Licht in der Kunst physisch präsenter als in diesen Strichballungen, die den Himmel nicht erhellen, sondern verdunkeln.

Die größten Wirkungen hat van Gogh aber erzielt, als er die in den Zeichnungen erprobte Verdichtungsmethode auf die Malerei und die Farben übertrug. In Paris hat er Stillleben und Stadtansichten meist noch improvisatorisch frei aus hingepinselten Flächen, kurzen Strichen und Punkten zusammengesetzt. In den Landschaftsansichten und den Selbstporträts aus dieser Zeit aber besteht die Bildfläche oft nur noch aus farbigen Einzelstrichen, die für sich genommen nichts bedeuten, zusammen aber ein atmendes, ja erregt vibrierendes Abbild der Gegenstände liefern.

In Arles, Saint-Rémy und schließlich in Auvers-sur-Oise konzentriert sich van Gogh, wenn er nicht gerade einen geschätzten Menschen porträtiert, ganz auf das in den Jahren zuvor entwickelte Wirkungsmittel der zerpflügten Farbfläche. Wie in einem Beschwörungsritual setzt er einen Pinselstrich dicht neben den anderen. Mit kurvig kreisenden und notorisch wiederholten Farbgesten modelliert er Objekte aus dem Bildgrund heraus. Ja, die dichte Folge immer gleicher pochender Bewegungen erweckt den Eindruck, als würde sein eigener Pulsschlag den Rhythmus beim Malen diktieren, ja als male er gar mit dem eigenen Blut. Die bildnerische Identifikation mit den Objekten könnte also kaum intensiver sein. Der alte Wunsch, den Dingen der Welt mit künstlerischen Mitteln eine Seele einzuhauchen, scheint hier am direktesten in Erfüllung zu gehen.

In der Schlucht Les Peiroulets, die er von der Nervenheilanstalt in Saint-Rémy aus besuchen konnte, hat van Gogh 1889 mehrere Bilder gemalt. An ihnen lässt sich die Methode, mit der er damals die Elemente einer Landschaft erfasste, besonders anschaulich darstellen (unser Bild). Das gekurvte trockene Bachbett, die ausgewaschenen Nischen unten im Fels und die mit Büschen bewachsenen Steilwände werden mit kurvigen dunklen Haupt- und begleitenden helleren Nebenlinien in den Raum gestellt. Dass in dieser Ansicht die Felsen sehr viel intensiver blau sind als der blaue Himmel darüber, das zeigt, wie van Gogh die am Ort vorhandenen Farben modifizierte und übersteigerte, wenn er vermitteln wollte, was er beim Betrachten der Landschaften verspürte.

Viele Maler haben sich von den koloristischen Kühnheiten van Goghs zu eigenen Wagnissen inspirieren lassen. Die Frankfurter Ausstellung zeigt, wie in Deutschland auf das große Vorbild reagiert wurde.

© SZ vom 18.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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