Vertriebene 1945, Flüchtlinge 2015:Stolz und Vorurteil

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Gründe zur Ablehnung kann man immer finden. Besser ist es, Gründe für die Aufnahme zu finden. Es geht darum, dass man stolz sein kann auf dieses Europa. Einmauern macht dumm, nicht stolz.

Von Heribert Prantl

Soeben hat sich die EU nicht darauf einigen können, wie sie vierzigtausend Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland angelandet sind, auf 28 Mitgliedsländer verteilt. Es gibt keine verbindlichen Verteilungsschlüssel; es gibt nur das Prinzip der Freiwilligkeit, das ein anderes Wort für Unwilligkeit ist. Heuchlerische Tränen nennt man Krokodilstränen. Auf dem EU-Gipfel haben viele Politiker Krokodilsreden gehalten: Eine Union mit 500 Millionen Einwohnern will nicht in der Lage sein, die paar Zigtausend Flüchtlinge gut aufzunehmen. Viele nationale Politiker fürchten, auch das ist ein Grund für ihre Unwilligkeit, dass diese kleine Verteilungsaktion der Beginn einer großen werden könnte. Und große gemeinsame Aktionen soll es nicht bei der Flüchtlingsaufnahme, sondern nur bei der Flüchtlingsabwehr geben.

Es gibt viel zu wenige Politiker, die für große Aufnahme- und Hilfsaktionen werben. Zu viele haben Angst vor dem Teil der nationalen Wähler, die Flüchtlinge als Eindringlinge empfinden; diese Politiker reden diesen Leute zu Munde. Gewiss: Es wird nicht wenige Menschen geben, bei denen die jüngsten Terrorakte in Lyon und Tunesien die Angst vor den Flüchtlingen verstärken. Aber der größte Teil der Flüchtlinge, die in Europa Schutz und Hilfe suchen, flieht vor eben diesem Terror. Das müssen die Politiker ihren Wählern sagen: Ganz viele Flüchtlinge waren und sind die Opfer des Terrors des IS; man kann nicht die Verbrechen dieser Terrororganisation geißeln und deren Opfer ihrem Schicksal überlassen. Europa kann helfen; und es sollte stolz darauf sein, dass es helfen kann.

Deutschland hat gute Erfahrungen mit Flüchtlingen: Vor siebzig Jahren standen 14 Millionen Vertriebene vor den Türen der Einheimischen und begehrten Einlass. Diese deutschen Flüchtlinge kamen in ein zerstörtes, viergeteiltes Land. Aber ein Grundrecht auf Asyl wurde damals ohne Wenn und Aber ins Grundgesetz geschrieben. Die Grundrechte sind auch deswegen so eindrucksvoll, weil sie auf zitterndem Boden geschrieben wurden und doch gar nichts Zittriges, nichts Zaghaftes hatten. Dieses Bewusstsein für Menschenrechte, das Vertrauen in Menschenrechte, braucht Europa heute; es ist ein Bewusstsein für eine gute Zukunft.

Europa kann helfen. Und es sollte stolz darauf sein, dass es helfen kann

Bundespräsident Gauck hat jüngst darauf hingewiesen, welch großen Anteil Flüchtlinge am Wiederaufbau Deutschlands hatten. Und er erkannte den Geist von damals, der den Neuanfang sucht und die Zukunft gestalten will, bei vielen Flüchtlingen von heute wieder . Ministerpräsident Seehofer von der CSU ist ihm da fast flegelhaft in die Parade gefahren; er erklärte, dass man die Flüchtlinge von damals mit denen von heute nicht vergleichen dürfe. Natürlich waren die Flüchtlinge damals Landsleute. Aber auch sie wurden nicht willkommen geheißen: Überfremdungsängste gab es auch damals. Im Emsland hielt sich lange die Redensart, die drei größten Probleme seien Wildschweine, Kartoffelkäfer und Flüchtlinge. Die Vertriebenen haben sich hochgearbeitet, ohne sie hätte es nur ein halbes deutsches Wirtschaftswunder gegeben. Diese Erfahrung macht Mut.

Irgendwelche Ablehnungsgründe kann man immer finden; besser ist es, Gründe für die Aufnahme zu finden. Es wäre gut, wenn man stolz sein könnte auf ein humanes Europa. Einmauern macht dumm, nicht stolz.

© SZ vom 27.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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